Große Wirkung
mit
Grace Bol

Von der Flucht vor dem Bürgerkrieg im Südsudan bis hin zum Erfolg als Model auf dem Laufsteg von Victoria’s Secret, GRACE BOL hat viel erlebt. LAURA CRAIK wagt einen Blick hinter die Kulissen einer bemerkenswerten Frau, die den richtigen Weg in eine andere Zukunft eingeschlagen hat
Es gibt Models, denen sieht man ihr Können von Natur aus an, während andere erst vor der Kamera zeigen, was sie draufhaben. Grace Bol fällt in die zweite Kategorie. Vor der Linse strahlt sie ein Selbstvertrauen aus, das anziehend und gleichzeitig unnachahmlich ist. Entweder man hat es oder man hat es nicht. Deshalb dauert es einen Moment, um zu realisieren, dass es sich bei der Person, die mit gebückter Haltung die Lobby des Nobu Hotels in Shoreditch, ein Stadtteil im Londoner Osten, betritt, um die gleiche Frau handelt. Bol könnte nicht unauffälliger gekleidet sein; ganz in Schwarz und mit einem grauen Tuch, das um ihren Kopf gebunden ist. Doch ihre Größe von 1,80m, die Schönheit und Wangenknochen wie Grace Jones machen jeden Versuch, unerkannt zu bleiben, zwecklos. Bol würde überall auffallen.
Selbst wenn man bedenkt, dass sie gerade aus New York eingeflogen ist, den Jetlag spürt und erschöpft ist, ist Bol als Interview-Partner nicht besonders überschwänglich. Sie ist weder distanziert noch arrogant, dafür aber äußerst schüchtern. Gerade deshalb möchte man mit ihr warmwerden, auch wenn sie manchmal etwas herzlicher sein könnte. Ihre Zurückhaltung überrascht kaum, wenn man die Entwicklung ihrer Karriere berücksichtigt. „Das ist eine lange Geschichte“, sagt sie mit einem Unterton auf die Frage nach ihrer Entdeckung. Die kurze Antwort ist, dass sie vor acht Jahren in einem Einkaufszentrum in Kansas City (Missouri) entdeckt wurde. Die längere Antwort ist, dass sie im Alter von acht Jahren nach Missouri kam, nachdem ihre Familie aus dem vom Krieg zerrütteten Südsudan floh. „Wegen des Krieges bin ich mein ganzes Leben lang immer wieder umgezogen“, sagt sie leise. „Ich schätze, Kansas City war das erste Zuhause für mich; die erste Stadt, die wir unser Zuhause nennen konnten. Davor waren wir in einem Camp. Wir zogen aus dem Südsudan nach Uganda, blieben dort in einem Flüchtlingslager und kamen danach in die USA.“
„Ich SCHÄTZE, Kansas City war das erste ZUHAUSE für mich; die erste STADT, die wir unser Zuhause nennen konnten“
Ihr erster Eindruck von Amerika war, dass es kalt ist. „Der Schneeschock“, erinnert sie sich fröhlich. „Ich habe in meinem Leben vorher noch nie Schnee gesehen. Ich wusste nicht, dass es so kalt werden kann. Es hat gedauert, sich anzupassen und es war nicht leicht. Ich erinnere mich daran, Eis auf dem Boden gesehen zu haben. Ich fasste es an und war geschockt. Ich dachte, es sei ein Pulver. Schnee ist etwas so Schönes, vor allem im Central Park.“
Bol lebt aktuell in New York. Sie zog in die Stadt als sie Erfolg mit dem Modeln hatte. Sie spricht lieber nicht über ihr Alter, weder jetzt noch damals, als sie entdeckt wurde. „Können wir darauf verzichten? Ich war ziemlich erwachsen“, sagt sie mit einem Lächeln. Als sie entdeckt wurde, reagierte sie schüchtern. „Ich weiß nichts über das Modeln, aber ich traf Leute, die es taten und fragte, ob es das Richtige für mich wäre und sie sagten ja.“ Sie hält einen Moment inne. „Ich habe so lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass ich ein Model bin. Ich dachte nicht, dass ich dafür gemacht wäre und habe Zeit gebraucht, um damit zurecht zu kommen.“
Ihren Eltern hat sie lange nichts von ihrer aufstrebenden Karriere erzählt. „Ich habe nichts erzählt, weil ich mir nicht sicher war, was ich sagen sollte. Vielleicht hätten sie gedacht, es sei Zeitverschwendung. Doch dann sah eines meiner jüngeren Geschwister ein Bild von mir im Internet, ohne dass ich jemandem vorher davon erzählt hatte. Sie sahen es und informierten meine Eltern.“ Bol weigert sich, über ihre Eltern zu sprechen. Sie sagt: „Sie haben sich für mich gefreut“, obwohl ihr Vater bereits gestorben ist. Wenn man sie nach der Anzahl ihrer Geschwister fragt, antwortet sie lachend: „Viele. Sagen wir einfach, dass es viele sind.“
„Ich habe so LANGE gebraucht, um zu akzeptieren, dass ich ein MODEL bin. Ich dachte nicht, dass ich dafür gemacht wäre und habe ZEIT gebraucht, um damit zurecht zu kommen“
Ihren Durchbruch hatte sie bei der Show von Givenchy im Herbst 2011, obwohl sie in der gleichen Saison auch für Maison Martin Margiela und Vivienne Westwood auf dem Laufsteg zu sehen war. „Aber die Show, die mich wirklich bekannt gemacht hat, war die von Givenchy, als ich zum ersten Mal nach Paris fuhr. Riccardo Tisci war sehr nett, wenn auch nicht besonders gesprächig, und wir hatten eine gewisse Verbindung. Ich kann es nicht erklären. Manchmal reicht eine Minute und es passiert etwas Überraschendes.“
Die außergewöhnlichste Show, für die sie in dieser Saison lief, war die von Victoria Beckham. An der Seite von Stella Tennant, Liya Kebede und Edie Campbell eroberte sie zum 10. Jubiläum der Marke den Laufsteg. „Mir gefällt Victorias Stil und ihre Kleidung, und ich mag sie als Person gerne“, sagt sie lächelnd. Im November läuft sie zum zweiten Mal für das Lingerie-Label Victoria’s Secret. „Ich fühle mich wirklich gut dabei, weil ich mir nicht 100% sicher war, ob ich es wieder zurückschaffen würde (in die Auswahl der Models)“, strahlt sie. „Ich denke, ich werde meine zweite Saison noch mehr genießen, jetzt, da ich weiß, wie es auf der Bühne ist und wie anders es im Vergleich zu anderen Shows ist. Ich bin dankbar und glücklich, dort zu sein, und freue mich, dass wir alle so viel Spaß haben.“
Was das berühmt-berüchtigte Workout betrifft, nimmt sie es gelassen. „Wir müssen wie ein Engel trainieren“, lacht sie. „Ja, wir müssen trainieren, aber es gibt dafür keine Vorschriften. Deshalb mache ich einfach das, was ich immer mache. Ich gehe joggen. Ich versuche mich mehr für Yoga zu interessieren, aber ich liebe es laufen zu gehen.“
„Aber die SHOW, die mich wirklich bekannt gemacht hat, war die von GIVENCHY. Riccardo Tisci war sehr nett, wenn auch nicht besonders gesprächig. Wir hatten eine gewisse VERBINDUNG“
Die Models bei den Shows von Victoria’s Secret wurden in der Vergangenheit für zu wenig kulturelle Vielfalt kritisiert. Bol sagt jedoch, dass es ihr nie aufgefallen sei. „Wenn ich mir die Schauen ansehe, zähle ich nicht die Anzahl der verschiedenen Hautfarben. Darauf achte ich nicht. Ich frage mich eher: ‚Ist die Show gut? Ist die Kleidung schön?‘ Ich fokussiere mich mehr auf die Präsentation und weniger auf die Art von Menschen darin.“
Viele Models nutzen Social Media und andere Kanäle, um sich politisch und sozial für die Dinge zu engagieren, an die sie glauben. Würde sie sich selbst als Aktivistin beschreiben? „Ich weiß es noch nicht“, sagt sie. Sie sagt, dass sie letztes Jahr an Weihnachten zuletzt im Südsudan zu Besuch war und positive Veränderungen festgestellt hat. „Wir haben jetzt unser eigenes Land. Das ist der erste Schritt, wenn auch nicht der beste. Wir fangen von Null an, aber es ist für jeden ein Zuhause. Ich bete nur, dass die Gewalt völlig aufhört.“
Bol spricht sehr herzlich über ihre Großmutter, die sie im Südsudan am liebsten besucht. „Sie ist eine sehr interessante Frau. Ich bin gerne an ihrer Seite und schätze unsere gemeinsamen Erinnerungen. Ich habe so viel von ihr gelernt. Sie ist sehr glücklich. Nun, sehr glücklich kann ich nicht sagen, aber sehr freundlich. Viele Menschen sagen das über sie. In unserem Dorf gehört sie zu den Personen, die am meisten respektiert werden, weil sie so freundlich und herzlich zu allen ist. Sie hat so viel durchgemacht, und wenn ich sie ansehe, bin ich einfach beeindruckt. Ich schätze, das inspiriert mich.“
Ihre Kollegin, das südsudanesische Model Alek Wek, war eine weitere Mentorin. „Wir haben uns viel zu erzählen. Wir haben mit den gleichen Hürden zu kämpfen, was unser Land betrifft. Sie spricht immer noch meine Sprache, also können wir uns in unserer Muttersprache unterhalten. Es war erstaunlich, wenn man bedenkt, wie viele Jahre sie bereits nicht mehr dort ist.“
„[Ich und Alek Wek] haben uns viel zu ERZÄHLEN. Wir haben mit den gleichen HÜRDEN zu kämpfen, was unser Land betrifft. Sie spricht immer noch meine SPRACHE, also können wir uns in unserer Muttersprache unterhalten“
Bol weigert sich zu sagen, ob sie mit jemandem ausgeht, und enthüllt genauso wenig über ihre Beauty-Routine. „Simpel“, sagt sie. „Ganz normales, natürliches Zeug. Öle.“ Irgendwelche Produkte, die sie nennen könnte? „Vaseline. Auf meinem Gesicht und Körper.“ Aber sie blüht wieder auf, wenn wir über Mode sprechen. „Ich liebe Prada, Louis Vuitton, Ralph Lauren… Ich liebe Roland Mouret. Seine Kleidung hat eine wirklich gute Passform. Ich habe eine lange Liste an Lieblingsdesignern. Jedes Jahr füge ich mehr und mehr hinzu. Im Moment trage ich eine Hose von Burberry, eine schwarze Bikerjacke von Vince und einen Schal von Calvin Klein. Was Handtaschen betrifft, liebe ich Prada, Louis Vuitton, Loewe und Zac Posen.“
Ich frage mich, was Bol gemacht hätte, wenn sie kein Model geworden wäre. „Hm, ich habe mich schon immer für Mode interessiert. Ich schaue mir Kleidung an und denke, dass ich gerne etwas entwerfen möchte. Ich denke darüber nach und habe noch andere kleine Träume, über die ich noch nicht sprechen kann“, sagt sie mit einem Lächeln. Grace Bol als Designerin? Für eine Frau, die so viel Charakterstärke beweist, ist alles möglich.
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