Freigeist
mit
Cara Delevingne

Das britische Supermodel CARA DELEVINGNE ist berühmt für ihre ausdrucksstarken Augenbrauen und eine unkonventionelle Art, mit der sie bewusst Grenzen überschreitet. Mit JANE MULKERRINS spricht die 27-Jährige über die Herausforderung, eine magische Fee zu spielen, sich Harvey Weinstein gegenüber zu behaupten und warum sie im Herzen stets Rebellin bleibt
„Ich habe mein Leben lang Menschen unglücklich gemacht und habe den Eindruck, es lief ziemlich gut“, verkündet Cara Delevingne. „Unglücklich?“, hake ich nochmal nach. „Nun, ich habe sie nicht direkt unglücklich gemacht“, erklärt sie. „Vielmehr habe ich nicht unbedingt das getan, was andere von mir erwartet haben. Ich hab ein Problem mit Autoritäten. Aber wenn mir etwas wirklich am Herzen liegt, gebe ich alles. Das gilt auch dann, wenn ich noch nicht genau weiß, wohin die Reise geht.“
Delevingne ist gerade erst am Set angekommen und trägt eine Jogginghose von Balenciaga, dazu derbe Schnürstiefel und einen Mantel im Military-Stil. Wir befinden uns im Malibu State Creek Park in Kalifornien bei sommerlichen 30 Grad im Schatten. Ihr Frühstück bestehend aus Frittata, Speck und Kartoffeln isst sie mit so viel Genuss, dass sie sich die Lippe blutig beißt. Im klimatisierten Wohnmobil gebe ich mein Bestes, um mit dem Tempo der 27-Jährigen Schritt zu halten. Sie redet schnell, springt von einem Thema zum nächsten und begeistert mit ihrem Witz und Charme.
„Ich hätte alles getan, um sie zu spielen“, sagt sie und deutet auf ihre Hauptrolle als Vignette Stonemoss an der Seite von Orlando Bloom in der auf Amazon Prime ausgestrahlten Serie Carnival Row. Delevingne ist der Wechsel vom Model-Business ins Filmgeschäft mehr als gelungen. Das neue Projekt schließt an die Erfolge ihrer Hauptrolle in dem Krimi Paper Towns (2015) und Nebenrollen in Suicide Squad sowie Tulpenfieber an. Um den Part zu bekommen, gab sie beim Casting alles und noch mehr: „Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, aber ich bin irgendwann einfach zusammengebrochen. Grundsätzlich finde ich es schwer, verletzlich zu sein. Ab einem bestimmten Zeitpunkt bin ich einfach durchgedreht“, sagt sie. „Ich weiß nicht, ob es Wut, Trauer oder Verzweiflung war, aber diese Situation hat etwas in mir ausgelöst und eine Seite in mir freigesetzt, die ich selber noch nicht kannte. Sie hält inne. „Ich erinnere mich nur, dass ich hochschaute und niemand reagierte. Dann sagte ich: ‚Oh Gott! Scheiße!‘ Ich hatte solche Angst, dass alle meine Performance für unglaublich peinlich hielten. Ein absoluter Albtraum.“
„Ich habe mich stets für ANDERE eingesetzt und irgendwie NICHTS zurückbekommen“
Doch Delevingne hat sich damit als die perfekte Besetzung für die rätselhafte, magische Fee in der viktorianischen Fantasy-Serie profiliert. „Vignette hat so viele Verluste einstecken müssen, mimt aber nie das Opfer und bringt nach wie vor Mitgefühl und Vergebung für Menschen auf, die sie verletzt haben. Wir können alle etwas von ihr lernen.“ Im phantastischen Kosmos der Serie geht es um wichtige Themen wie Immigration, die Probleme als Außenseiter und die Frage, wen man lieben darf. „Ich verstehe meine Figur als pansexuell. Jedoch kenne ich mich mit den Begriffen nicht so gut aus – sie ist eben lesbisch“, sagt sie und zuckt mit den Achseln. Außerhalb ihrer Heimat werden die Feen unterdrückt und wie Freaks behandelt. In einer der ersten Folgen bindet ein Mensch die Flügel von Vignette zusammen, um ihre Freiheit einzuschränken. „Genau das, was Frauen seit jeher durchmachen mussten“, betont Delevingne. „Jeden Tag musste ich ein Korsett tragen und nach einer Weile kann man nicht mehr sprechen. Ich frage mich, ob Männer früher herumgesessen und gedacht haben: Was können wir tun? Wäre ein Maulkorb zu offensichtlich? Dann lasst uns doch einfach ihre Taille einzwängen, damit sie weder atmen noch reden können.“
Obwohl es heute schwer vorstellbar ist, doch Delevingne erwähnt, sie selbst habe bis vor kurzem nicht das Gefühl gehabt, ihre Meinung frei aussprechen zu dürfen. „Als Model schrieb man mir keine Identität oder einen persönlichen Wert zu. Ich dachte so: Supermodel?“ Sie tut so, als würde sie an einem imaginären Computer tippen. „Okay, die sehen feminin aus, das kann ich auch. Aber es war wirklich schwer“, erzählt sie. „Ich habe mich stets für andere eingesetzt und irgendwie nichts zurückbekommen.“
„Die SCHAUSPIELEREI hat mich erkennen lassen, dass ich ÜBERHAUPT keinen Schimmer habe, wer ICH eigentlich bin“
„Natürlich wird nicht jeder Akt die Welt verändern“, sagt sie über ihre Schauspielrollen. „Aber zumindest kann ich mit meiner Arbeit eine positive Botschaft vermitteln.“ Ich frage, ob sie das Gefühl hat, dass die Schauspielerei ihre eine Stimme gegeben hat? „Immerhin hat mich dieser Beruf erkennen lassen, dass ich überhaupt nicht weiß, wer ich bin“, antwortet sie lachend.
Cara wuchs im Londoner Stadtteil Belgravia als die jüngste von drei Schwestern auf, Chloe ist 34 und Poppy, die ebenfalls modelt, ist 33 Jahre alt. Ihr Vater ist der Bauunternehmer Charles Delevingne, wohingegen ihre Mutter Pandora ihre Zeit als Socialite verbringt und den Großteil ihres Lebens mit ihrer manischen Depression und Heroinabhängigkeit zu kämpfen hatte. Die meiste Zeit ihrer Kindheit erlebten die Mädchen nicht im eigenen Zuhause.
Cara leidet unter Dyspraxie, eine Koordinations- und Entwicklungsstörung, und fiel demzufolge als Teenager ihrem eigenen Zyklus von Selbstzerstörung und Depression zum Opfer. Sechs Monate lang ging sie nicht zur Schule und bekam Medikamente, die „mir mit Sicherheit das Leben gerettet haben“, gibt sie zu. Mit 22 erhielt sie im Jahr 2014 zum zweiten Mal die Auszeichnung als Model of the Year bei den British Fashion Awards. Damals litt sie unter schweren Depressionen. Delevingne floh nach Los Angeles, schrieb dort Gedichte und Songs und entschied sich schließlich bewusst gegen Medikamente. „Ich denke, sie dienen der Erstversorgung, sollten aber nicht dauerhaft eingenommen werden. Meine Mutter kann heute nicht mehr ohne Medikamente leben. Es ist als würde man ein Pflaster auf eine offene Wunde kleben. Normalerweise liegen der Krankheit traumatische Ursachen zugrunde, das ist etwas völlig anderes.“ Für sie hatte die Behandlung mehr Nachteile als Vorteile. „Die Medikamente geben einem das Gefühl, innerlich schon tot zu sein“, sagt sie. „Man kann keinen Orgasmus haben und spürt gar nichts. Aber jeder ist da anders“, fügt sie schnell hinzu. „Das waren allerdings meine Erfahrungen.“
„Ich wurde bei so VIELEN Treffen gefragt, was ich denn nun sei: L, G, B, T, Q?“
„Ich mache keine halben Sachen“, sagt sie und widmet sich damit wieder ihrer Schauspielkarriere. „Ich arbeite hart und liebe meinen Job. Aber ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht, wieviel Kreativität in mir steckt.“ Neben der Schauspielerei singt Delevingne auch, spielt Gitarre sowie Schlagzeug und hat einen Jugendroman geschrieben. Fühlt sie sich unter Druck gesetzt, sich selbst zu finden oder bestimmte Anforderungen zu erfüllen? „Ich hasse es“, betont sie. „Es macht mich fertig für alles einen Stempel aufgedrückt zu bekommen. Ich bin kein Label.“ Das betrifft auch ihre Sexualität. Es hat lange gedauert, bis sie diese für sich selbst und andere definieren wollte. „Ich wurde bei so vielen Treffen gefragt, was ich denn nun sei: L, G, B, T, Q? Ich konnte es nicht glauben. Gibt es nichts anderes, über das man sich unterhalten kann? Schließlich verändere ich mich jeden Tag.“
„Schon als junges Mädchen habe ich mich in Männer verliebt“, fährt sie fort. „Mit fünf Jahren war ich in meinen Sportlehrer verknallt. Er heiratete meine Sportlehrerin, weshalb ich wochenlang geweint habe. Ich hatte vier Jahre lang einen Freund und nachdem er mich verlassen hatte, kam ich mit seinem besten Freund zusammen. Von Männern wurde ich immer wieder auf Neue verletzt.“
„Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich lesbisch bin“, erklärt sie.
„Das ERSTE, was Harvey Weinstein zu mir sagte, war: ‚Du wirst es als LESBE in dieser Branche NIE zu etwas bringen. Lass dir lieber einen Bart wachsen‘“
Sie ist sich nicht sicher, ob der offene Umgang mit ihrer Sexualität ihre Karriere beeinflusst hat. „Zu Beginn hat es vermutlich nicht viel gebracht“, sagt sie. „Eine der ersten Dinge, die Harvey Weinstein zu mir sagte, war: ‚Du wirst es in dieser Branche als Lesbe nie zu etwas bringen. Lass dir einen Bart wachsen.‘“ Das war, so sagt sie, „lange vor seinen Versuchen, mich sexuell zu belästigen.“ Im Oktober 2017 gab sie an, dass Weinstein sie sexuell bedrängt haben soll, indem er von ihr verlangte, vor seinen Augen eine andere Schauspielerin zu küssen. Damals, „als ich in der Filmbranche noch neu war, nannte er die Namen prominenter Frauen, mit denen ich auch befreundet bin. Er fragte: ‚Hast du mit ihr geschlafen?‘ Es war irre.
Weinsteins Vermutungen haben sich ganz offensichtlich nicht bewahrheitet. Seit über einem Jahr ist sie mit der 29-jährigen ehemaligen Schauspielerin Ashley Benson zusammen. Die beiden haben sich am Set von _Her Smell_kennengelernt. Darin spielten sie an der Seite von Elisabeth Moss die Mitglieder einer weiblichen Punk-Band. „Aus Angst habe ich bisher noch niemanden wirklich geöffnet“, gesteht Delevingne. „Ich habe Menschen nie vollkommen vertraut oder mich wert genug gefühlt und sie immer verdrängt. Sie ist die erste Person, die gesagt hat: „Du kannst mich nicht wegstoßen. Ich werde dich gut behandeln. Ich liebe dich.‘“ Man sieht Delevingne die Verwirrung an. „Ich muss also nur zulassen, dass du nett zu mir bist? Warum habe ich das nicht früher getan? Okay.“
Mit _Carnival Row_hat sich Delevingne dazu verpflichtet, für sieben Monate in Prag zu filmen. Benson lebt derweil in Los Angeles. „Fernbeziehungen sind immer hart“, sagt Delevingne achselzuckend. „Wir versuchen es trotzdem. Wir müssen es versuchen. Es macht mich glücklich und zu einem besseren Menschen.“
Am Tag nach unserem Interview fliegt sie nach New York, um dort beim Nexus Global Summit der Vereinten Nationen zu sprechen. „Für dreißig Prozent der dort anwesenden Leute gilt Homosexualität immer noch als illegal in ihrem Land. Also werde ich über meine persönlichen Erfahrungen als queere Person und über den Klimawandel sprechen. Ich werde versuchen, in zwanzig Minuten so viele Themen wie möglich abzudecken“, sagt sie mit einem Lächeln.
„Dass ich Menschen unglücklich gemacht habe, bedeutet eher, Aufmerksamkeit zu erregen“, sagt sie. „Die Leute werden zu bequem. Man muss sie wachrütteln.“
EXKLUSIV-VIDEO
Supermodel und Schauspielerin Cara Delevingne ist berühmt für ihren Sinn für Humor und nimmt sich selbst nicht allzu ernst. Doch wie geht die 27-Jährige mit wirklich peinlichen, unangenehmen Situationen um? In unserem Video verrät sie einige überraschende Tipps…
Die in diesem Artikel dargestellten Personen stehen nicht in Verbindung mit NET-A-PORTER und unterstützen weder die Inhalte noch die gezeigten Produkte.