Primetime
mit
Gillian Anderson

Seit ihrer bahnbrechenden Rolle in dem langjährigen Science-Fiction-Drama Akte X in den 90er-Jahren hat GILLIAN ANDERSON das Publikum drei Jahrzehnte lang sowohl auf der Leinwand als auch auf der Bühne in ihren Bann gezogen und verkörperte zuletzt Margaret Thatcher in The Crown. HANNA FLINT hat die Schauspielerin getroffen, um über Tapferkeit, bemerkenswerte Frauen und die wichtigen Lektionen des Jahres 2020 zu sprechen
Es ist ein sonniger Herbstnachmittag im Londoner Hyde Park, und Gillian Anderson macht einen Vogelbeobachtungsausflug. Wir sind eigentlich hier, um über ihre jüngste Rolle in der vierten Staffel von The Crown zu sprechen, in der sie Großbritanniens umstrittene erste Premierministerin Margaret Thatcher spielt. Doch von Zeit zu Zeit ist die britisch-amerikanische Schauspielerin von der Tierwelt im Serpentine See fasziniert. „Sehen Sie, was der Schwan mit seinen Federn macht“, ruft sie. „Entschuldigung, aber sehen Sie nur, was der braune Schwan macht – er formt ein Herz.“
Anderson ist zugegebenermaßen keine Ornithologin und kann auch nicht jeden der uns umringenden Vögel benennen – allerdings war es ihr Kindheitstraum, Meeresbiologin zu werden. Jetzt wäre allein die Vorstellung, eine zu spielen, ein Alptraum. „Ganz ehrlich, ich möchte einfach nicht nass werden“, sagt sie. „Ich bin definitiv an einem Punkt angelangt, an dem ich mich weigern würde, gewisse Dinge zu machen. Eine Freundin wäre eventuell im Film Everest gewesen, aber ich erinnere mich, dass ich damals dachte: ‚Oh Gott, stell dir nur vor, was man da mitmachen müsste!‘ Ich bin einfach nicht die richtige Person dafür.“
Also, wer ist Anderson? Die gerühmte Schauspielerin wurde vielfach für ihre Rolle als Agentin Dana Scully in der beliebten Science-Fiction-Serie Akte X prämiert und feierte weitere Erfolge als Kriminalkommissarin Stella Gibson in The Fall – Tod in Belfast sowie als glamouröse Sextherapeutin Jean Milburn in der kürzlich erschienenen Serie Sex Education.
„Wenn ich eine KLARE Meinung zu [Thatcher] gehabt hätte, hätte dies bestimmt einen EINFLUSS […] gehabt. Deshalb war es für mich als Schauspielerin WICHTIG, diese Dinge außer Acht zu lassen“
Sie ist stolze Londonerin und lebt schon fast ihr ganzes Erwachsenenleben in der britischen Hauptstadt. Und sie ist offensichtlich eine Tierliebhaberin; mehrmals wird die Unterhaltung von einem tauchenden Kormoran oder einem plantschenden Labrador unterbrochen. Auch Privatsphäre ist ihr sehr wichtig und sie zieht es vor, nicht öffentlich über ihr Familienleben zu sprechen – auch wenn es ihr nichts ausmacht, ein paar lustige Anekdoten zu erzählen. Zum Beispiel hat sie ein Angebot abgelehnt, ihre eigene Sexspielzeug-Kollektion, inspiriert von Sex Education, herauszubringen: „Ich kann mich nicht mehr erinnern, warum ich nein gesagt habe.“ Und vor Jahren hatte sie einer Frau, die half, Google und Facebook aufzubauen, eine Idee zum Video-Sharing vorgestellt. Es stellte sich heraus, dass diese Idee bereits existierte und bald als YouTube veröffentlicht werden sollte. „Das war das letzte Mal, dass ich jemandem meine brillanten Technologieideen mitgeteilt habe“, kichert die Schauspielerin.
Die 52-jährige Anderson trägt kein Make-up, als wir uns treffen, und wirkt strahlend wie eh und je, so wie man sie von den letzten 30 Jahren auf der Leinwand kennt. Anderson macht sich zwar Gedanken über ihr Aussehen (sie erzählt, dass sie diesen Morgen ihre Haare nachfärben ließ, um für bevorstehende gefilmte Pressetermine bereit zu sein), ist jedoch auch selbstironisch, was das Altern anbelangt. „Meine Mutter hat mir mein ganzes Leben lang erzählt, dass meine Großmutter Mary-Rose sehr gute Haut hatte, aber ich schlafe oft ein, ohne mich abzuschminken, und bei jedem Fotoshooting weisen mich alle darauf hin, dass meine Haut sehr trocken sei.“
Auch wenn Anderson in Bezug auf ihr Äußeres bescheiden ist, aber sie ist selbstbewusst, was die Rollen angeht, die sie spielen möchte, und wer kann ihr das verdenken? „Es ist heute anders als noch vor zehn oder 15 Jahren“, sagt sie. [Damals] hätte eine Frau meines Alters, zumindest im Fernsehen, Schwierigkeiten gehabt, etwas zu finden. Jetzt scheint es aber eine Vielzahl an interessanten Rollen zu geben.“ Anderson hat in ihrer Karriere bereits herausragende Figuren wie Blanche DuBois in Endstation Sehnsucht, Margo Channing in Alles über Eva und nun Margaret Thatcher gespielt und gibt zu: „Es ist schwierig, nicht etwas wählerisch zu werden.“
Sie war die erste Wahl der Casting-Direktion von The Crown, noch bevor Peter Morgan, der Schöpfer der Serie und Andersons Lebenspartner der letzten vier Jahre, sie für die Rolle der Thatcher vorschlug. Doch nachdem sie offiziell an Bord war, einigte sich das Paar darauf, ihre Darstellung nicht direkt zu besprechen. Wenn sie eine Frage hatte, wandte sie sich an die Drehbuchautoren oder das Recherche-Team. Wenn er eine Anmerkung zu ihrer Darstellung hatte, sprach er mit der Regie. „Wir haben uns selbst Grenzen gesetzt“, erklärt sie. „Irgendwie haben wir es geschafft, das Ganze gut abzuschließen; es hat Spaß gemacht und es war sogar wirklich schön, zusammenzuarbeiten.“
Schauspieler brauchen wohl ein gewisses Maß an Einfühlungsvermögen, um eine Figur gut darzustellen. Da liegt die Annahme nahe, dass die liberal gesinnte Anderson einiges davon brauchte, um sich in eine polarisierende Figur wie Thatcher hineinzuversetzen. Doch sie glaubt, dass sich ihr Verhältnis zu der verstorbenen konservativen Politikerin von dem derjenigen unterscheidet, die während ihrer Regierungszeit in Großbritannien lebten. „Meine Familie zog 1979, dem Jahr, in dem sie Premierministerin wurde, in die USA. Deshalb denke ich, dass meine Erfahrung mit ihr eine andere war, als wenn wir geblieben wären und ich von Erwachsenen umgeben gewesen wäre, die über sie diskutiert hätten. Ich hatte mir überhaupt keine Art von Meinung über sie gebildet. Die sehr starken Reaktionen der Menschen zu ihrer Politik hörte ich erst als Erwachsene, daher konnte ich neutral an die Sache herangehen.“
Ihre Wissenslücken füllte sie mithilfe des „forensischen“ Recherche-Teams von The Crown, las so viel sie konnte und sah sich lange Videos an, um Thatchers Auftreten und Aussprache zu studieren. „Ihre Stimme veränderte sich je nachdem, ob sie mit [ihrem Ehemann] Denis oder mit ihrem Regierungsteam sprach“, erklärt Anderson. „Auch wenn sie mit den Ministern scherzte, war ihre Stimme anders und wenn sie auf einer Party oder einer Konferenz sprach, wurde der Tön höher und etwas belehrend. Ich wollte eine Balance zwischen all dem schaffen, eine Fusion, anstatt mich zu sehr damit zu beschäftigen, verschiedene Versionen ihrer Stimme für verschiedene Szenen zu haben.“
Die Serie dreht sich mehr um die Königsfamilie – Olivia Colman kehrt für ihre zweite Staffel als Königin Elisabeth II. zurück –, doch Thatcher ist öfter zu sehen als die Premierminister vor ihr. Bereits während der ersten fünf Folgen wird das Familienleben und die Herkunft der konservativen Regierungschefin aus der Arbeiterklasse behandelt, sowie ihr Umgang mit dem Falklandkrieg. Anderson glaubt jedoch nicht, dass sie die Rolle mit einer politischen Voreingenommenheit hätte spielen können. „Wenn ich eine klare Meinung zu ihrem Regierungsstil gehabt hätte, hätte dies bestimmt einen Einfluss auf meine Darstellung in bestimmten Szenen gehabt. Deshalb war es für mich als Schauspielerin wichtig, diese Dinge außer Acht zu lassen.“
Aber über die aktuelle politische Lage hat sie eine klare Meinung. „Ich sorge mich um den Zustand unserer Welt“, gibt sie zu. „Es ist erschreckend und es wird immer schlimmer.“
Die Unruhen der letzten Jahre haben sie dazu gebracht, sich „mehr auf die Dinge zu konzentrieren“, die ihr am meisten am Herzen liegen. Seit Jahrzehnten unterstützt sie daher Wohltätigkeitsprojekte in Südafrika und setzt sich gegen Menschenhandel, für die Gleichberechtigung von Frauen und für reproduktive Gesundheit, neben vielen anderen Anliegen, ein. Dieses Jahr wurde ihr bewusst, wie viel mehr noch getan werden muss. „Egal, wie viel Arbeit ich für wohltätige Zwecke leiste, ich glaube nicht, dass ich jemals wirklich die Tragweite der Diskriminierung erkannt habe, die People of Color und Minderheiten in der Gesellschaft erfahren; wie endemisch sie ist und wie strukturell unmöglich es für so viele Menschen ist, über diese Diskriminierung hinauszukommen.“
„Ich NEIGE dazu, mich vor gewissen Dingen zu VERSCHLIESSEN“, sagt sie nachdenklich. „[Doch] es ist an der Zeit, ZUZUHÖREN.“
Die Black-Lives-Matter-Bewegung hat sie dazu gebracht, falsche Betrachtungsweisen über die Gesellschaft abzulegen. „Damit hat das Lernen begonnen, von dem ich gar nicht gewusst hatte, dass ich es brauchte“, sagt sie bestimmt. „Ich lerne, wie sehr ich das Gefühl habe, einer Gehirnwäsche unterzogen worden zu sein und wie wir als Gesellschaft sind, und wie viel es darüber zu lernen gibt, was systematisch verändert werden muss.“
Wir spazieren Richtung Ausgang des Hyde Parks und Anderson wechselt vom Vogel- zum Menschenbeobachten. Auch wenn die Schauspielerin sich um die aktuelle Lage der Welt sorgt, haben die Erfahrungen dieses stürmischen Jahres einen nachhaltigen Eindruck bei ihr hinterlassen. „Ich neige dazu, mich vor gewissen Dingen zu verschließen“, sagt sie nachdenklich. „[Doch] es ist an der Zeit, zuzuhören.“
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