Most Wanted

Das gemütliche kleine Café, in dem ich Grace Elizabeth treffe, ist belebt. Die Mischung aus dem lauten Surren der Espressomaschine, intensivem Geschwätz, einer schrecklichen Akustik und sogar einem bellenden Hund erschwert unsere Begrüßung, selbst nachdem sie ihre winterlichen Ohrenschützer abgenommen hat. Also entscheiden wir uns widerwillig, der Polarluft New Yorks zu trotzen und machen uns auf den Weg zurück zum Broadway. Unser angestrebtes Ziel ist ein edles Hotel zwei Blocks entfernt. Als wir aber an der ersten Ecke an einem kaum besuchten Hähnchenimbiss vorbeikommen, leuchten Elisabeths Augen auf: „Sollen wir einfach hier reingehen?“, fragt sie hoffnungsvoll.

Diesen Vorschlag hatte ich kaum von einem Model erwartet. Aber die 21-Jährige kommt aus den Südstaaten, geboren und aufgewachsen in Florida. Ihr Outfit am heutigen Tag spiegelt ihre Herkunft wider: Double Denim – einen Rock von Acne Studios und eine Bluse – zu roten Stiefeln von Chloé ergibt einen unglaublich stylishen Western-Look. Auch wenn Sie mit ihrem Namen nicht vertraut sind, werden Sie ihr Gesicht höchstwahrscheinlich kennen; ihre außergewöhnlichen Wangenknochen und markanten Augenbrauen zierten bereits die Plakate von Labels wie Guess, Gap, Ralph Lauren und Beauty-Konzern Estée Lauder. Auf dem Laufsteg lief sie unter anderem für Stella McCartney, Versace und Victoria’s Secret. In Wirklichkeit sieht sie jünger aus als die strahlende Göttin aus den Werbekampagnen. Sie ist umwerfend schön und verkörpert den Südstaaten-Charme mit sehr liebenswertem Witz.

Gerade ist sie zurück von den Couture-Shows in Paris, wo sie den Laufsteg bei Alexandre Vauthier eröffnete und für Chanel lief. Zeit zum Durchatmen bleibt kaum, denn in Kürze wird sie wieder für die Modenschauen der Ready-to-Wear unterwegs sein. Sie weiß noch nicht, für wen sie auf dem Laufsteg sein wird, sagt aber „es gibt Marken, mit denen ich in den letzten drei Saisons zusammengearbeitet habe. Ich hoffe also, die Beziehungen aufrecht zu erhalten, beispielsweise mit Chanel oder Versace. Hier in New York laufe ich meistens für Michael Kors und Jeremy Scott und für Moschino und Alberta Ferretti in Mailand.“ Nicht schlecht für eine Newcomerin – Elizabeth gab ihr Runway-Debüt 2016. „Ich erinnere mich noch an meine ersten Castings für die Fashion Week. Ich saß dort vier Stunden lang in einer Reihe mit 100 anderen Mädchen“, erzählt sie. „Und dann kam eine rein, die in der Branche sehr bekannt ist und sie wurde direkt durchgewinkt, ohne anstehen zu müssen. Heute“, fährt sie fort, „bin ich dieses Mädchen.“

Geboren als Grace Elizabeth Harry Cabe wuchs sie in der kleinen Stadt Lake City im Norden Floridas auf, wo ihre Eltern als MRT-Spezialisten tätig sind. Sie hatte „eine tolle Kindheit. Ich konnte den ganzen Tag draußen sein und mit meinen ganzen Cousins spielen bis es dunkel wurde. In der Stadt gibt es natürliche Quellen und nach der Schule mieteten wir uns deshalb für ein paar Dollar einen [aufblasbaren] Gummiring, mit dem wir uns dann stundenlang über die Flüsse treiben ließen.“

Im Alter von neun Jahren wurde Elizabeth als Model für eine Hochzeitshow in diesem Einkaufszentrum entdeckt, um Brautjungfernkleider zu präsentieren. „Es hat mir wirklich nicht gefallen. Es gab bessere Dinge, ich tun konnte, wie zum Beispiel draußen sein“, sagt sie achselzuckend. Aber als sie mit 16 Jahren erneut für die gleiche Show – diesmal für Brautkleider – angefragt wurde („16 fühlte sich immer noch ziemlich jung dafür an“, bemerkt sie), liebte sie es „verwandelt und hübsch gemacht zu werden und mich in die Rolle der schönen Frau hineinzuversetzen.“

Ihre Mutter schickte ihre Bilder an eine Modelagentur in Miami, die sie innerhalb weniger Monate auch in den Katalog des New Yorker Büros aufnahm. Anfang 2016 wagte sie den Schritt offiziell nach New York zu ziehen. „Ich hatte noch nie eine Nacht allein in meinem eigenen Haus verbracht, also war es anfangs schwer“, sagt sie. „Wenn ich in meiner Stadt in den Supermarkt gehe, heißt es: ‚Wie geht es deiner Mutter?‘ Jeder kennt jeden. Und plötzlich befand ich mich in dieser riesigen Stadt mit so vielen Menschen, und ich kannte niemanden.“ Unbeirrt davon mietete sie eine Wohnung und setzte sich selbst eine sechsmonatige Frist. „Meine Eltern haben alles, was sie hatten in meine Modelkarriere gesteckt; Kredite genutzt und eine zweite Hypothek auf das Haus aufgenommen. Wir haben zu viel dafür gegeben, um aufzugeben. Nach sechs Monaten begann es dann mit den Jobs zu laufen.“ Sie bekam einen Anruf von Miu Miu und erhielt vor ihrem Catwalk-Lauf von Miuccia Prada höchstpersönlich aufmunternde Worte. „Sie sagte: ‚Du bist schön, du bist stark und du kannst das.‘ Es war ein klares Statement, aber auch eine Frage“, lacht Elizabeth. „Also glaubte ich daran, dass ich es kann. Das war der Wendepunkt.“