Stille Wasser
mit
Naomi Watts

Während die ganze Welt mit Spannung auf das Prequel zu Game of Thrones wartet, wird die Hauptdarstellerin NAOMI WATTS für ihre Leistung in der Miniserie The Loudest Voice und dem Drama Luce mit positiven Kritiken überhäuft. Diesen Erfolg hat sich die zurückhaltende Engländerin hart erkämpft. Im Gespräch mit JANE MULKERRINS verrät die Schauspielerin, wie sie mit Ablehnung umgeht und zum Schmied ihrer eigenes Glücks geworden ist
„Als ich Mitte zwanzig war stand ich am Anfang meiner Karriere und jeder sagte mir, dass mit 40 alles vorbei sein würde“, erinnert sich Naomi Watts. „Und um ehrlich zu sein, sah es auch danach aus. Damals gab es nur wenige, bei denen die Karriere nahtlos weiter ging.“ Watts wurde im vergangenen September 50 Jahre alt. In diesem Sommer ist sie in der Miniserie The Loudest Voice zu sehen. Die Sendung beschäftigt sich mit der beruflichen Laufbahn von Roger Ailes, dem Gründer von Fox News. Außerdem spielt sie in dem Film Luce, der sich mit Themen wie interkulturelle Adoption und sexuelle Gewalt befasst und hat eine Hauptrolle im Prequel zu Game of Thrones. Die Dreharbeiten für dessen Pilotfolge sind gerade erst abgeschlossen.
„Leider darf ich dazu nichts verraten“, sagt sie und schweigt sich über meine Fragen diesbezüglich aus. Bloodmoon – so lautet Gerüchten zufolge der Titel der neuen Serie, die tausende Jahre vor Game of Thrones spielt. Was wir wissen, ist, dass die Britin Jane Goldmann das Drehbuch geschrieben hat. Sie sei „ein Genie, absolut brillant“, erzählt Watts. Auch seien keine der Figuren aus der achten Staffel der erfolgreichen HBO-Serie darin zu sehen. Watts gibt zu, was die Kultserie betrifft, eine Spätzünderin zu sein. „Ich habe mich zum ersten Mal damit befasst, als ich Anfragen für den Job bekam“, gesteht sie. „Aber mein Bruder (der Fotograf Ben Watts) ist ein großer Fan. Er sagte zur mir: ‚Lehn die Rolle unter keinen Umständen ab.‘“ Die ersten sieben Staffeln schaute sie sich innerhalb von drei Monaten an und „war hin und weg.“
Trotz ihrer überaus erfolgreichen Karriere und zwei Oscar-Nominierungen (für 21 Gramm und The Impossible – Überleben ist alles), erregte die in Australien aufgewachsene gebürtige Engländerin wenig Aufsehen. Ihre Berühmtheit hängt sie nicht an die große Glocke. Auf dem Weg zu Watts’ hollywoodreifem Sommerhaus in den Hamptons bekomme ich eine SMS: Sie geht zum Yoga und trifft mich danach im Außenbereich eines Cafés. Auch nach hunderten von Interviews ist es selten, dass mir eine Schauspielerin direkt schreibt, statt über einen Publizisten oder Agenten. Auch bei ihrer Ankunft wirkt sie mit ihrer Yoga-Ausrüstung, ohne Make-up und mit einem zurückgebundenen Pferdeschwanz völlig normal. Niemand scheint so richtig Notiz von ihr zu nehmen. Das Prequel zu Game of Thrones dürfte ihre Popularität steigern. „Ich habe immer noch Panik deswegen“, gibt sie zu. „Ich weiß wirklich nicht, was mich erwartet.“
„Ich habe mich mit GoT zum ERSTEN Mal befasst, als ich Anfragen für den JOB bekam. Mein Bruder sagte mir: ‚Lehn diese Rolle unter KEINEN Umständen ab.‘ [Also schaute ich die Serie an] und war SOFORT hin und weg“
Bis dahin bleibt sie mit blonder Perücke in The Loudest Voice nahezu unerkannt. Darin spielt sie die Rolle der Gretchen Carlson, Moderatorin bei Fox News, die im Juli 2016 eine Klage gegen Roger Ailes einreichte. Dieser soll für Carlsons Entlassung bei dem Fernsehsender gesorgt haben, nachdem sie seine sexuellen Annäherungsversuche abgelehnt hatte. Neben ihr meldeten sich weitere Frauen, darunter Megyn Kelly, mit Vorwürfen der Belästigung zu Wort. Innerhalb weniger Wochen veranlassten diese Ailes zur Kündigung. „Sie ist eine Heldin“, schwärmt Watts von Carlson. „Sie gab völlig unbewusst den ersten Anstoß für die #MeToo-Bewegung, die 15 Monate später ihren Höhepunkt erreichte. Leider bekommt sie dafür nicht die Anerkennung, die ihr zusteht.“ Carlson erhielt von Fox eine Abfindung in Höhe von 20 Millionen Dollar, jedoch mit der Bedingung, nicht an der Produktion der Serie beteiligt zu sein. Watts traf Carlson zum ersten Mal bei der Show-Premiere. „Ich musste mich sehr zusammenreißen, nicht zu emotional zu sein und in Tränen auszubrechen.“
Obwohl Carlsons Erfahrungen bei Fox spezifisch und extrem waren, konnte sich Watts ohne Probleme in die Moderatorin hineinversetzen. „Wir haben alle zu Beginn unserer Karriere etwas ähnliches erlebt, bis eine Agentur ins Spiel kam.“ Sie erzählt mir von einem Erlebnis während ihrer Zeit an der Schauspielschule in Australien. Auf dem schwarzen Brett sah sie ein Ausschreiben für ein Vorsprechen und ging zu der darauf angegebenen Adresse. Dort sagte man ihr dann, sie solle sich aufs Bett setzen und ihr Oberteil ausziehen. Sie erfand eine Ausrede und ging. „Ich verließ das Vorsprechen und dachte: ‚War ich das? Vielleicht bin ich zu verklemmt. Vielleicht ist das ganz normal. Vielleicht muss ich einfach mitmachen.‘“
„Wir alle haben zu Beginn unserer KARRIERE ähnliche Erfahrungen [mit Belästigungen] gemacht, bis eine AGENTUR ins Spiel kam. Doch ich zweifelte und fragte mich: ‚Vielleicht bin ich zu verklemmt. Vielleicht ist das alles ganz NORMAL?‘“
Watts wurde im englischen Shoreham in Kent geboren und erlebte eine ausgelassene Kindheit. Ihr Mutter Myfanwy, genannt Miv, ist Kostümbildnerin sowie Innenarchitektin und war mit Marianne Faithfull befreundet. „Ich erinnere mich, wie ich von ihrer Stimme fasziniert war“, sagt Watts. Ihr Vater Pete arbeitete als Toningenieur für Pink Floyd. Das Paar trennte sich, als Naomi vier Jahre alt war. Drei Jahre später starb ihr Vater an einer Heroinüberdosis.
Während ihrer Kindheit war die Familie immer auf Wanderschaft zwischen Wales, London, Cambridge und Suffolk, und das Geld war knapp. „Wir waren arm und ich fühle mich heute nicht anders“, sagt Watts. Bei meinem Besuch in den Hamptons frage ich sie deshalb etwas verwundert, woran sie das heute festmacht. „Es gibt Dinge, für die ich kein Geld ausgeben würde. Ich lasse meine Wäsche nicht im Hotel reinigen, selbst wenn ich wochenlang dort zu Gast bin. Ich gebe keine 6 Dollar aus, um eine Socke gesäubert zurückzubekommen. Stattdessen wasche ich sie lieber selbst im Waschbecken“, entgegnet Watts lachend. „Meine Kinder und ich fliegen in der Economy-Klasse. Man ändert seine Einstellung nicht nur, weil man plötzlich mehr Geld verdient.“
„Ein ganzes JAHRZEHNT lang wurde ich in Hollywood abgelehnt. Ich fühlte mich immer mehr ENTMUTIGT. Schließlich hat [David Lynch] mich und meine Fähigkeiten völlig neu ENTDECKT“
Als Watts 14 Jahre alt war, zog sie „tretend und schreiend“ mit ihrer Familie nach Sydney in Australien. Um ihre Tochter zu besänftigen, stimmte Miv zu, sie für den Schauspielunterricht anzumelden. Kurze Zeit später wurde Watts von einem Agenten entdeckt, begann in der Werbung zu arbeiten und für Fernsehrollen vorzusprechen. Dort traf sie eines Tages Nicole Kidman, die eine treue und lebenslange Freundin werden sollte. Einige Jahre später war Kidman in den USA bereits eine etablierte Schauspielerin und mit Tom Cruise verheiratet. Sie überredete Watts mit 25 Jahren, den Pazifik zu überqueren. Es lief nicht besonders gut. „Ein ganzes Jahrzehnt lang wurde ich in Hollywood immer wieder abgelehnt“, erzählt sie. „Ich war enttäuscht und fühlte mich mit jeder Absage noch mehr entmutigt, bis ich aus der Misere nicht mehr herauskam. Es gab viele Momente, da wollte ich einfach meine Sachen packen und gehen“, gesteht sie. Erst als Watts David Lynch traf, war eine Veränderung in Sicht. Der Filmregisseur gab ihr eine Hauptrolle in Mullholland Drive – Straße des Grauens. „Er hat mich und meine Fähigkeiten neu entdeckt.“ Inzwischen muss Watts kaum noch für etwas vorsprechen.
„Es fühlt sich wie eine große VERÄNDERUNG an. Frauen denken heute: ‚Mach es einfach!‘ WARTE nicht darauf, dass das Telefon klingelt. Früher hat man im Stillen nur GEHOFFT. Jetzt ist alles anders“
Mit ihrem Ex-Ehemann und ehemaligen Schauspielkollegen Liev Schreiber hat sie zwei Söhne, Sasha (12) und Samuel Kai (10). Beide interessieren sich seit kurzem für das Theater. Diesen Sommer verbrachten sie einige Zeit in einem Ferienlager, das sich auf Performancekunst spezialisiert hat. „Stichwort: nicht meine Kindheit“, wirft Watts lachend ein. „Ihr Interesse scheint geweckt“, aber Watts sieht der Sache „mit gemischten Gefühlen“ entgegen. Sie und Schreiber haben sich 2016 nach elf Jahren Beziehung getrennt. Zusammen haben sie sich stets darum bemüht, den Kindern eine stabilere und geregeltere Erziehung zu bieten als ihre eigenen. „Wir gehen die Dinge anders an.“ Ich frage, ob das nach der Trennung eine noch viel größere Herausforderung sei. „Ich bin ziemlich stolz auf uns, so kitschig das auch klingen mag“, antwortet sie. „Ein freundliches Miteinander hat bei uns absolute Priorität. Da gibt es keine Ausnahme.“
Watts und Gwyneth Paltrow sind hier in Amagansett in den Hamptons Nachbarn. Paltrow wurde 2014 verspottet, weil sie offen mit der Scheidung von Chris Martin umging. „Heute will jeder so sein – sie war dem Trend voraus“, stimmt Watts zu. Sie war es auch, die Watts dazu inspirierte und motivierte, ein Beauty-Unternehmen für natürliche Kosmetik ins Leben zu rufen. Zusammen mit zwei Freundinnen von früher gründete sie Onda. Karrieretechnisch plant Watts keine 360-Grad-Wende wie Paltrow. Dennoch ist ihre Marke mittlerweile nicht nur online, sondern auch in Geschäften in New York, Sag Harbor in den Hamptons, Sydney und bald auch im Londoner Stadtteil Notting Hill erhältlich. „Man sollte die meiste Zeit seines Lebens mit Gleichgesinnten verbringen“, sagt sie.
Dasselbe Mantra gilt auch für ihren nächsten Film Penguin Bloom. Das Drama basiert auf der wahren Geschichte eines beinah tödlichen Familienunfalls. Für Watts ist das ihr Produktionsdebüt an der Seite ihrer Freundin und australischen Kollegin Bruna Papandrea, die auch Big Little Lies mit Kidman produziert hat. In einer Woche reist sie für den Beginn der Dreharbeiten nach Australien. „Es fühlt sich wie eine große Veränderung an“, bemerkt Watts. „Frauen denken heute: ‚Mach es einfach!‘ Warten Sie nicht darauf, dass das Telefon klingelt. Früher hat man im Stillen gewartet und gehofft“, sagt sie reflektierend. „Jetzt ist alles anders.“ Ist es das Ende? Wohl kaum.
Wann der Film „Luce“ in den deutschen Kinos erscheint, ist noch nicht bekannt.
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