Dem Wandel voraus
mit
Tessa Thompson
Sie ist eine Schauspielerin, ja (und Produzentin und Sängerin, wo wir gerade dabei sind), aber TESSA THOMPSON macht sich auch auf unzählige andere Arten einen Namen. Sie forderte nicht nur Hollywoods Prominenz dazu auf, Regisseurinnen auf praktische Weise zu unterstützen, sondern gab ihren Instagram-Account auch an eine in Chicago ansässige Community-Plattform – sie ist eine Frau, die es ernst meint, wie LYNETTE NYLANDER herausfindet
Tessa Thompson hat nicht einen Moment des Lockdowns vergeudet. Ganz im Gegenteil. Während COVID-19 den Menschen weltweit eine Zwangspause auferlegt hatte, nutzte die Schauspielerin ihre freie Zeit nicht nur zum Kochen, Lesen und für ihren Hund Coltrane, sondern widmete sich weiterhin ihren Herzensprojekten. „Dies ist nicht die richtige Zeit, um einfach nur rumzusitzen und zuzuschauen, was in der Welt geschieht,“ erklärt sie mir in unserem Zoom-Telefonat aus ihrem Zuhause in Los Angeles.
Auch wenn Thompson sich selbst nicht als Aktivistin sieht, so hat sie ihren Status als eine der dynamischsten führenden Figuren in der Filmindustrie stets genutzt, um auf wichtige Themen und Missstände aufmerksam zu machen. Anlässlich des tragischen Todes von George Floyd und der daraus resultierenden „Black Lives Matter“-Proteste, hatte sie gemeinsam mit Schauspielkollege Kendrick Sampson einen offenen Brief verfasst, der von mehr als 300 Namen in der Filmbranche unterzeichnet wurde und Hollywood aufforderte, sich von der Polizei abzuwenden und stattdessen in die „Black Community“ zu investieren. Im Jahr 2019 rief sie die #4PercentChallenge von Time’s Up und die „Annenberg Inclusion“-Initiative ins Leben, die Hollywood-Figuren auffordern, sich innerhalb der nächsten 18 Monate zur Zusammenarbeit mit weiblichen Regisseurinnen, insbesondere „Women of Colour“, zu verpflichten. Unverzüglich erhielt Thompson tatkräftige Unterstützung von Kerry Washington, Amy Schumer und Janet Mock, die sich den Initiativen anschlossen. Zudem hat sich Thompson der „Pass The Mic“-Bewegung verschrieben, bei der Menschen mit einer großen Reichweite, ihren Account auf den sozialen Medien anderen Organisationen temporär zur Verfügung stellen, um so wichtige Themen und gemeinnützige Projekte verbreiten zu können. Ihr eigenes Instagram-Profil mit drei Millionen Followern stellte Thompson Helene Gayle, CEO der Chicago Community Trust, zur Verfügung, die über die unverhältnismäßigen Auswirkungen von COVID-19 auf die „Community of Colour“ in den Vereinigten Staaten aufklären konnte. Ihr Einsatz führte dazu, dass sie auf dem TIME-Cover der Ausgabe über die Leitfiguren der nächsten Generation erschien.
„Ich entscheide über mein LEBEN. Meine WERTE und Überzeugungen müssen mit meinem KREATIVEN Umfeld übereinstimmen“
„Nicht jeder Künstler muss sich automatisch dem Einsatz für sozialen Wandel verschreiben“, lenkt sie ein, „doch ich persönlich habe mich stets dazu berufen gefühlt. Gerade Konflikte, die Mut und Kampfbereitschaft verlangen, die eigene Stimme zu erheben, spornen mich unheimlich an. Mir liegt es sehr am Herzen, weiterhin Raum für diejenigen zu schaffen, die mehr über die aktuellen, wichtigen Themen wissen als ich.“
Auf die Frage, ob sie Angst habe, Jobangebote aufgrund ihres Engagements verlieren zu können, antwortet sie fest entschlossen und voller Überzeugung: „Wer wegen meines Einsatzes im Kampf für Gerechtigkeit und die Werte der Black Community nicht mit mir zusammenarbeiten möchte, hat bei mir sowieso keine Chance. Ich entscheide über mein Leben. Meine Werte und Überzeugungen müssen mit meinem kreativen Umfeld übereinstimmen.“
Neben ihrer blühenden Karriere und dem bedingungslosen Einsatz für all ihre Herzensprojekte, findet Thompson immer noch Zeit für Spaß und Unterhaltung. Ein Blick auf ihr Instagram-Profil beweist, dass die Schauspielerin zahlreiche Interessen hat: von Björk und John Waters bis hin zu Kelis, Nina Simone und Eartha Kitt ist alles vertreten. Sogar ein Gastauftritt in ihrer Lieblingsserie RuPaul’s Drag Race mit Gewinnerin Shea Couleé gibt es zu bestaunen.
„Sie ist so wunderschön. Ich bin ausgeflippt, als ich bemerkte, dass Shea Couleé mir auf Instagram folgt und überhaupt weiß, dass es mich gibt. Ähnlich verrückt wie damals, als Oprah mir auf Twitter folgte. Mir wurde plötzlich bewusst, dass Oprah womöglich meine Tweets las und ich fragte mich ‚Wow, stimmt Oprah meinen Tweets zu?‘“
Thompson wurde im Jahr 1983 geboren und wuchs zwischen Los Angeles und Brooklyn auf, nachdem sich ihre Eltern früh getrennt hatten. Ihr Studium absolvierte sie in Santa Monica, wo sie mit der Los Angeles Women’s Shakespeare Company bereits in Produktionen vor Ort mitwirkte. Mit kleineren Rollen in populären Fernsehsendungen wie Grey’s Anatomy, Heroes und Private Practice nahm ihre Karriere auf der Leinwand ihren Lauf, bevor sie im Jahr 2010 ihren Durchbruch an der Seite von Weltstars wie Whoopi Goldberg, Janet Jackson und Thandie Newton in Tyler Perrys Film Die Tränen des Regenbogens feierte. Im Jahr 2014 brillierte die Schauspielerin schließlich im Blockbuster Selma und im darauffolgenden Jahr in Creed – Rocky’s Legacy sowie der mit dem Sundance-Award ausgezeichneten Komödie Dear White People.
Es war jedoch die megaerfolgreiche HBO-Sciencefiction-Serie Westworld, mit der sie weltweiten Ruhm und Anerkennung erlangte. Im Jahr 2016 erhielt sie außerdem für ihre Darstellung als Vorstandsmitglied Charlotte Hale von Delos Incorporated fantastische Kritiken. „Hale überzeugt mit ihren vielen Facetten. Sie leitet ein Unternehmen und ist gleichzeitig Mutter und Partnerin, die mit allen Mitteln versucht, ihre Beziehung zu retten,“ so Thompson über die Gründe, diese herausfordernde Rolle anzunehmen. Ob als Valkyrie in den Marvel-Filmen Thor: Tag der Entscheidung und Avengers: Endgame oder als erste weibliche Agentin M an der Seite von Chris Hemsworth in der „Men in Black“-Reihe, Thompson hat bewiesen, dass sie auch das Zeug zur modernen Superheldin hat.
„Als ich REALISIERTE, dass Oprah mir auf Twitter folgte, wurde mir plötzlich bewusst, dass OPRAH womöglich meine Tweets las und ich fragte mich ‚Wow, stimmt Oprah meinen TWEETS zu?‘“
Von der unerschütterlichen Action-Heldin bis hin zur schwer verliebten Verlobten in den 50ern, Thompson verschmilzt regelrecht mit den unterschiedlichen Charakteren, die sie auf der Leinwand spielt: „Ich beneide meine Kollegen, denen es gelingt, sich voll und ganz und ausschließlich auf ihre einzelnen Rolle zu konzentrieren. Ich hingegen versuche stets, aus der Sicht meiner Rolle heraus zu agieren und beziehe auch mein gesamtes Umfeld sowie das Film-Set mit ein. Das große Ganze der Geschichte spielt in meine Darstellung mit rein und beeinflusst mein Handeln.“
Diese Liebe für jedes kleinste Detail war es schließlich auch, die Thompson zur Filmproduktion gebracht hat. In ihrem nächsten Projekt Sylvie’s Love von Regisseur Eugene Ashe spielt sie nicht nur die Hauptrolle, sondern agiert auch als leitende Filmproduzentin. Der Film spielt in New York im Jahr 1957 und portraitiert Sylvie, Tochter eines Schallplattengeschäftsbesitzers, die sich Hals über Kopf in den begabten Saxophonisten Robert (gespielt von Nnamdi Asomugha) verliebt. Die Geschichte beinhaltet alles, was eine wahre Hollywood-Lovestory ausmacht: schwere Hürden, herzzerbrechende Botschaften, die niemals ausgesprochen werden und einmalige Gelegenheiten.
„Als ich das erste Mal von Sylvie's Love hörte und mit Nnamdi über die Produktion Gespräche führte, musste ich unweigerlich an Wie ein einziger Tag denken. Ich erinnere mich genau, wie ich damals dachte, dass ich unheimlich gerne einmal in solch einer starken Geschichte mitspielen würde,“ sagt sie.
„Einen FILM zu drehen, über zwei schwarze Menschen, die sich ineinander VERLIEBEN, kam mir unglaublich WICHTIG vor…“
Die Bedeutung eines solchen Films in dieser Zeit ist beachtlich. „Einen Film zu drehen, über zwei schwarze Menschen, die sich ineinander verlieben, kam mir unglaublich wichtig vor. Ich denke, selbst in diesen Momenten der Gefahr und des Schmerzes, zeigt sich, dass wir immer noch zu Abend essen, immer noch feiern, immer noch Lieder singen, immer noch Liebe machen und all die anderen Dinge tun, die wir als Menschen tun, um das Leben lebenswert zu machen.“
Thompson hat sich nun einem weiteren bedeutenden Projekt mit großer Tragweite gewidmet. Sie hat die Hauptrolle in Rebecca Halls neuem Regie-Debut Passing, die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Nella Larson, in der sie an der Seite von Ruth Negga spielt. Der Film ergündet das sogenannte „Racial Passing“, ein Begriff, der eine Person bezeichnet, die einer bestimmten ethnischen Gruppe angehört und dennoch aufgrund ihres Aussehens zu einer anderen zugeordnet werden könnte. „Als ich das Buch in den Händen hielt, las ich es in einem Zug durch, und das Drehbuch von Rebecca haute mich ebenfalls regelrecht um. Sie ist dem Roman von Nella Larsen wirklich mehr als gerecht geworden.“
„Sie selbst stieß auf den Roman, als sie sich mit Dingen in ihrer eigenen Familiengeschichte rund um das Thema „Passing“ auseinandersetzen musste… zu realisieren, dass Mitglieder ihrer Familie ebenfalls diesen Prozess durchgemacht hatten. Das war ihr vollkommen neu und sorgte auch in ihr selbst für Verwirrung und Aufruhr in Bezug auf ihre eigene Identität.“
Die Botschaft des Films beschreibt Thompson als „die Erkenntnis, dass es hierbei nicht nur um ethnische Darstellung geht, sondern generell um die Art und Weise, wie so viele Dinge als Mensch performativ sind. Die Art und Weise, wie sich Geschlecht performativ anfühlen kann, wie sich Sexualität performativ anfühlen kann, die Art und Weise, wie sich Zufriedenheit, einfach nur ein Mensch zu sein, manchmal so anfühlen kann, als ob man Zufriedenheit vorführt… Diese Idee hat mich wirklich angesprochen.“
Angesichts ihres Interesses, unzählige Geschichten zu erzählen und ihrer Liebe zum Detail, frage ich, ob sie auch Interesse am Regieführen habe. „Das interessiert mich in der Tat, doch ich weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie genau das in der Zukunft aussehen wird,“ verrät sie mit einem schüchternen Lächeln.
„Hollywood übt so viel DRUCK aus, besonders hinsichtlich des Aussehens. Es ist doch wirklich BEDENKLICH, dass man zuerst nach dem Kleid und dem Designer gefragt wird und erst DANN nach der eigentlichen Arbeit“
Schauspielerin, Produzentin und Sängerin: Thompson begeistert so oder so bereits jetzt als Multitalent. Mit ihrer Ausdrucksstärke und Vielseitigkeit stürzen sich namhafte Designer regelrecht auf sie, damit sie deren Kreationen – mit der Hilfe ihrer Stylisten Wayman Bannerman und Micah McDonaldzur – zur Schau trägt. Dazu zählen Kultlabels wie Versace, Valentino, Chanel (deren Robe sie zur vergangenen Met Gala trug) und Loewe, sowie aufsteigende Designtalente wie Christopher John Rogers und Pyer Moss. „Ich betrachte Mode ebenso wie die Filmindustrie und widme mich sowohl den ganz Großen als auch unabhängigen, kleineren Filmen und Projekten. So handhabe ich es auch mit Fashion“, erklärt sie.
Nichtsdestotrotz sei sie sich den Schattenseiten dieser Industrie bewusst. „Das ist eben diese Sache mit Hollywood. Vor allem auf Frauen wird so viel Druck ausgeübt, besonders hinsichtlich des Aussehens und der Kleidung. Es ist doch wirklich bedenklich, dass man zuerst nach dem Kleid und dem Designer gefragt wird und erst dann nach der eigentlichen Arbeit.“
Wenn jemand dieser rasanten Achterbahnfahrt in Hollywood standhalten kann, dann ist es Thompson. Die willensstarke Schauspielerin hat bewiesen, dass sie nicht nur das Zeug dazu hat, darin zu bestehen, sondern vielmehr den notwendigen Wandel voranzutreiben.