Das Designer-Interview: Isabel Marant
Die französische Designerin scheint eine magische Formel für mühelos coole Looks zu haben. GILLIAN BRETT verrät sie, das Geheimnis ihres Erfolges liege darin, komfortable Designs zu kreieren, in denen Frauen sich selbstbewusst und wohl fühlen
genau sechs Tage bis zu Isabel Marants Herbst-/Winter-Show 2020. Wir befinden uns ganz in der Nähe ihres eigenen Ateliers im ersten Arrondissement, wo ihr Team ihrer mit Spannung erwarteten neuen Kollektion gerade noch den letzten Schliff verleiht. Dass sie sich in dieser entscheidenden Phase trotzdem Zeit für unser Shooting und das Interview Zeit genommen hat, sagt viel über die französische Designerin aus.
Sie trägt eine ausgeblichene graue Jeans, die sie in ihre Kulturstiefel mit kegelförmigem Absatz gesteckt hat, ein dazu passendes graues Strickoberteil und eine Jeansjacke im XXL-Format (alles ihre eigenen Designs, denn warum sollte man nicht von Kopf bis Fuß in Isabel Marant gekleidet sein, wenn man die Möglichkeit hat?). Mit ihrem Outfit, dem silbernen Haar lässig zum hohen Dutt gestylt und umhüllt von einer Wolke aus Zigarettenrauch ist sie der Inbegriff der Pariser Nonchalance, die auch ihre Kreationen ausmacht. „Ich lasse mich sehr davon inspirieren, wie ich mich selbst kleide“, erklärt sie später. Beim schnellen Auffrischen ihres Make-ups am Set scherzt sie mit dem Team, dabei ist ihr lautes, herzlichen Lachen auch durch die Kakophonie an Haartrocknern, Kameraklicks und Luftküssen unverkennbar zu hören. Marant bringt eine Energie mit sich, die wirkt, als hätte jemand die Musik aufgedreht.
So war es auch im vergangenen September, als die Pariser Designerin ihre Sommerkollektion vorstellte, inspiriert von mitreißenden brasilianischen Techno-Beats. Irina, Amber, Gigi und andere Models, die nur beim Vornamen genannt werden müssen, liefen in Jumpsuits mit tropischen Blumenmustern, ultrakurzen Shorts in sonnigen Farben und Marants typischer hoch sitzender und unten zulaufender Jeans über den Laufsteg. „Ich wollte Farbe bekennen, bunte, fröhliche, lebendige Designs präsentieren“, erklärt sie. „Außerdem wollte ich Haut zeigen, vor allem Bein, das finde ich immer gut.“ Sie erzählt, dass sie jede neue Kollektion mit einer gewissen Vorstellung beginnt, einer vagen Silhouette. Aber auch von Musik lässt sie sich inspirieren.
„Eine Nacht war es Rockabilly, dann Punk oder New Wave. Wir hatten Spaß daran, mit den unterschiedlichen Modestilen der Musiktrends zu spielen
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„Für mich ist das Leben Musik“, sagt sie, um sogleich ihre aktuellen Favoriten aufzulisten. Es ist ein eklektischer Mix, darunter die nigerianischen Künstler Burna Boy und Fela, der britische Sänger James Blake sowie Kazu Makino, ein japanischer Musiker und früherer Frontmann der alternativen Rockband Blonde Redhead. Musik war in vielerlei Hinsicht Marants erste Liebe und auch das, wodurch sie wenn auch eher zufällig zur Mode kam.Wir befinden uns im Paris der frühen 80er Jahre, wo kultivierter Chic den modischen Alltag bestimmte, polemisiert von einer aufkeimenden Punk-Bewegung. Die 16-jährige Marant und ihr damaliger Freund und zukünftiger Designerkollege Christophe Lemaire lassen sich von der unendlich facettenreichen Clubszene des Jahrzehnts mitreißen. „Eine Nacht war es Rockabilly, dann Punk oder New Wave gefolgt von Raggamuffin. Der Übergang war fließend, wir hatten Spaß daran, mit den unterschiedlichen Modestilen der Musiktrends zu spielen.“ Das Paar bekam Lust, selbst Mode zu entwerfen, wenn auch zunächst nur für Freunde und sich selbst.
„Erst haben wir es nur aus Spaß gemacht, um [eigene] Looks zu kreieren”, erinnert sie sich. „Aber irgendwann habe wir so viele davon verkauft, dass wir dachten: ,Ach, man kann Geld mit etwas verdienen, das einem Spaß macht, wie cool.‘ Dann haben wir Fashion entdeckt.“ Zu dieser Zeit entstand eine Anti-Fashion-Bewegung von Designern wie Vivienne Westwood, Yohji Yamamoto und Comme de Garçons, von der sich die Rebellin in ihr angesprochen fühlte. In dem wohlhabenden Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine, in dem sie aufwuchs, verfolgten Freunde und Nachbarn pikiert, wie sie Kleidungsstücke ihre Eltern zweckentfremdete, gar darauf bestand, die Bademäntel und Hausschuhe ihres Vaters zur Schule zu tragen. „Mein Umfeld war nicht immer aufgeschlossen genug für meine Looks“, erzählt sie lächelnd. Man kann wohl davon ausgehen, dass sich die progressive junge Marant von damals sehr darüber amüsiert hätte, dass die stilbewusste Pariserin von heute gar nicht genug von ihrem Hauptlabel wie auch ihrem Zweitlabel Isabel Marant Étoile bekommen kann.
„Mein Ziel war es immer, sagen zu können: ,OK, was trage ich heute?‘, um dann meinen Kleiderschrank zu öffnen und zu wissen, dass ich die richtigen Outfits parat habe. Ich hatte nicht den Eindruck, dass viele Designer diesen Ansatz teilten
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Ihre entfachte Leidenschaft für Mode führte sie an die Pariser Modeschule Studio Berçot. Hier war es, wo Gründerin und Direktorin Marie Rucki ihr den „super wichtigen“ Ratschlag gab, nur Designs zu entwerfen, die sie auch selbst tragen würde. Es ist ein Rat, den sie auch heute noch befolgt. Marant war sich sicher, dass sie nie für jemanden anderen würde arbeiten wollen und so gründete sie 1994 ihr gleichnamiges Prêt-à-Porter-Label. Bei ihrer ersten Paris Fashion Week Show für die Frühling/Sommer-Kollektion 1995 ließ sie Freundinnen als Models über den Laufsteg laufen. Ihre erste Boutique eröffnete sie 1998 an der Rue de Charonne im Bastille-Viertel im Osten von Paris.
Damals war die Metropole bekannt für ihren ultraglamourösen Chic, präsentiert und dominiert von illustren Pariser Modehäusern wie Yves Saint Laurent und Christian Dior. Marants Ästhetik jedoch ist durch und durch bequem und cool mit Boho-Flair. „Mein Ziel war es immer, sagen zu können: ,OK, was trage ich heute?‘, um dann meinen Kleiderschrank zu öffnen und zu wissen, dass ich die richtigen Outfits habe. Ich hatte den Eindruck, dass nicht viele Designer das gleiche Ziel verfolgten“, sagt sie. „Es geht darum, sich in seinen Kleidungsstücken richtig wohl zu fühlen, darum, wie man Dinge trägt, und ich glaube für mich als Frau ist es relativ leicht, herauszufinden, was wir eigentlich wollen.“ Der Erfolg gab ihr Recht, denn sehr schnell avancierte ihre Boutique zum ultimativen Geheimtipp.
Seit 26 Jahren ist sie nun in der Branche. Die jahrelange Erfahrung erklärt ihre Ruhe und charmante Gelassenheit so kurz vor der nächsten Show, aber ihre Fashion-Week-Routine ist bis ins Detail perfektioniert. „Die Show-Kollektion ist schon vor rund zehn Tagen fertiggeworden“, erklärt sie. „Ein oder zwei Designs sind nicht ganz fertig, aber ich bin schon halb durch die nächste Sommerkollektion für Étoile.“ Seitdem auch eine Männerlinie hinzugekommen ist, designt sie mindestens acht Kollektionen im Jahr.“ Ich arbeite immer an drei Kollektionen gleichzeitig. Ich vergleiche mich und Designer im Allgemeinen oft mit Spitzensportlern. Es gibt dieses Klischee über Designer: Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll. Tatsächlich ist es Yoga, Bio-Essen und Ruhe. Ich kann nicht einfach mal krank sein, weil es ein Desaster ist, wenn ich auch nur einen Tag mal weg bin.“
„Man kann [meine Designs] aus unterschiedlichen Kollektionen problemlos miteinander kombinieren. Dahinter verbergen sich die gleichen Augen, die gleiche Seele. Ich bin immer mit Herzblut bei der Sache
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Sie arbeitet von acht Uhr morgens bis Mitternacht, und das an fünf Tagen die Woche. Um auch mal abzuschalten und gesund zu bleiben, achtet sie strikt darauf, am Wochenende nicht zu arbeiten. Stattdessen fährt sie mit ihrem Mann, Handtaschendesigner Jérôme Dreyfuss, ihrem 17-jährigen Sohn Tal raus aufs Land nach Fontainebleau, 75 Kilometer südöstlich von Paris, wo die Familie eine rustikale Hütte ohne Strom und fließend Wasser besitzt. „Ich mache viel im Garten, das befreit den Kopf und es ist schön, das Ergebnis der eigenen Arbeit zu sehen. Ich mache viele Waldspaziergänge und im Sommer gehe ich schwimmen.“ Freunde sind immer willkommen und werden von Marant bekocht. „Ich kann in fünf Minuten etwas für 20 Personen kochen. Ich verbringe nicht gerne Stunden mit Kochen, da bin ich sehr effizient.“
Es ist diese Mischung aus Unbekümmertheit und Finesse, die sich wie ein roter Faden durch alles zieht, was sie macht. Ihre Kreationen mögen leger aussehen, doch dahinter verbirgt sich ungeheures Geschick. Qualität steht für sie an erster Stelle. „Ich kaufe lieber ein wirklich gutes Piece als viele schlechte, die ich nach einer Minute nicht mehr will. So war ich auch schon früher, als ich begann, mich für Mode zu interessieren“, sagt sie, während sie Styles auflistet, auf sie als Jugendliche gespart hat und die sie heute noch trägt. Fans ihrer Mode haben es leicht, eine Garderobe für die Ewigkeit zusammenzustellen. Von ihrer unverkennbaren Silhouette bestehend aus markanten Schulterpartien, niedriger Taille und einer legeren Hose sowie ihrer 80er-Glamrock-Ästhetik mit Boho-Flair ist sie nie abgewichen. Im Gegenteil, mit jeder Kollektion wird sie weiter kultviert und erhält größeren Wiedererkennungswert. „Man kann [meine Designs] aus unterschiedlichen Kollektionen problemlos miteinander kombinieren. Dahinter verbergen sich die gleichen Augen, die gleiche Seele. Ich bin immer mit Ernst bei der Sache.“
Wie erwartet ist die H/W20-Kollektion, die sie eine Woche später präsentiert hat, spektakulär. Überraschend jedoch ist die minimalistische Färbung, inspiriert von William Forsythes Ballett Blake Works I und dem Wunsch, „wahrhaftige“ Designs zu entwerfen. Mit neutralen Nuancen, formvollendeten Capes, kuscheligen Mänteln und luxuriösen Strickkleidern hat ihre neue Kollektion einen wahrlich zeitlosen Appeal. Hinter den Kulissen erklärte sie Journalisten, dass es gemütliche, aber kultivierte Pieces sein sollten, die ihre Besitzerinnen nie wieder aus den Händen lassen wollen.
Marant ist es wirklich wichtig, wie sich Frauen in ihren Designs fühlen, wie ihre Kreationen sich dem weiblichen Körper anpassen und ihm schmeicheln. Bevor ihr Porträt mit dem französisch-amerikanischem Model Sophie Koella aufgenommen wird, fasst sie schnell noch die Taille von Koellas bedruckter Utility-Jacke im XXL-Format (aus der F/S20-Kollektion) etwas enger, um die Silhouette zu konturieren und um dafür zu sorgen, dass die Jacke etwas besser ,fällt‘. „Ich tendiere sonst zum Unisex-Stil, aber in Isabels Designs fühle ich mich immer wohl“, erzählt Koella. „Ich fühle mich in ihren Designs feminin, aber auf eine Weise, die mir und meinem Charakter entspricht. Ich würde sonst immer eher eine locker sitzende Jeans statt eines Rocks anziehen, aber aus irgendeinem Grund kann ich einen Rock von Isabel tragen und trotzdem noch ich selbst sein.“ Für jeden Mikro-Mini und jedes Paar kniehohe Stiefel gibt es in Marants Kollektion auch einen übergroßen Strickpullover oder eine weite Hose. Auch macht Marant ihre Mode nicht für Supermodels, stattdessen entkräftet sie veraltete Altersgrenzen (sie selbst feiert nächsten Monat ihren 53. Geburtstag). „Ich finde es großartig zu sehen, wie vielfältig meine Kundschaft ist, vor allem aufs Alter bezogen. Von 15 bis 80 ist alles dabei.“
Frauen sind ein wichtiger Fokus für Marant. Bereits zum zweiten Jahr in Folge hat sie in Zusammenarbeit mit Net-A-Porter ein Weltfrauentag-T-Shirt entworfen. Der Erlös aus dem Verkauf geht an die Wohltätigkeitsorganisation Women for Women International. Außerdem spricht sie mit Nachdruck über vor allem Frauen betreffende Themen wie das geschlechtsspezifische Lohngefälle. „In meinem Unternehmen ist das überhaupt keine Frage. Ich schaue weder auf das Geschlecht noch auf die Hautfarbe meiner Mitarbeiter. So bin ich erzogen worden, deshalb ist das für mich selbstverständlich.“ Aber auch Themen wie die MeToo-Bewegung und die weibliche Objektifizierung stehen ganz weit oben auf ihrer Agenda. Im Laufe ihres Lebens hat sie sich immer wieder von den starken französischen Frauen der Geschichte inspirieren lassen, ihre Vorbilder: die feministische Schriftstellerin Simone de Beauvoir, Politikerin und Frauenrechtlerin Simone Veil sowie die provokative Künstlerin und Bildhauerin Louise Bourgeois. „Ich liebe Frauen, alle Frauen. Wenn ich gefragt werde, wer meine Muse sei, sage ich ,Frauen‘.“ Es ist ein Kompliment, dass wohl jede Frau erwidern würde.