Coverstory

Die Macht des Guten

mit

Natalia Vodianova

NATALIA VODIANOVA, Supermodel, Mutter von fünf Kindern und treibende Kraft hinter der Kinderhilfsorganisation The Naked Heart Foundation, wird ihrem Spitznamen „Supernova“ mehr als gerecht. Hier erzählt sie EMMA SELLS, was sie über Mode, Spendenaktionen und Überzeugungskraft gelernt hat.

Foto Alique .Styling Morgan Pilcher
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Natalia Vodianova glaubt nicht an Perfektion. Dafür hat die 36-Jährige keine Zeit, denn sie hat andere Dinge, die sie unter einen Hut bringen muss: Ihre fünf Kinder, die zwischen 1 und 16 Jahre alt sind, ihren Langzeitfreund (LVMHs Antoine Arnault), die hochkarätige Kinderhilfsorganisation The Naked Heart Foundation, die Philanthropie-App Elbi und eine erfolgreiche Modelkarriere. Also muss sie Abstriche machen. „Ich hätte mein Leben gerne schön organisiert und alles perfekt, aber im Moment ist das nicht sehr realistisch“, gibt das russische Supermodel zu, während wir in einer gemütlichen Hotelsuite in London sitzen. Es ist der Tag nach ihrem jährlichen „Fabulous Fund Fair“, einem extravaganten Spektakel im Kirmesstil, bei dem sie Luxuslabels und Industriegrößen wie Stella McCartney, Lara Stone, Doutzen Kroes, Karlie Kloss und viele weitere einlädt, um zu helfen. Und verständlicherweise fühlt sie sich erschöpft – obwohl sie selbst an solchen Tagen in bester Modelmanier immer noch besser aussieht, als die meisten von uns. Und während wir uns unterhalten, wird ihr Haar in Vorbereitung auf eine Party im Rahmen der Brit Awards geföhnt, dann geht es für sie direkt weiter zur Fashion Week nach Mailand, bevor sie nach Paris fliegt, um dort einen Halbmarathon für ihre Wohltätigkeitsorganisation zu laufen. Entspannung ist eines dieser weiteren wohlklingenden Worte, für die Vodianova schlichtweg keine Zeit hat. „Mehr Stunden am Tag, davon träume ich“, lacht sie.

Ihr Aufstieg zum Superstar liest sich wie das archetypische Modemärchen. Sie wurde in Gorki – heute Nischni Nowgorod – in Westrussland geboren und wuchs zusammen mit ihren beiden Halbschwestern bei ihrer alleinerziehenden Mutter Larisa auf. Geld war knapp zu dieser Zeit und bereits im Teenageralter verließ Vodianova die Schule und verkaufte bei jedem Wetter Obst an einem Straßenrandstand und half dabei, die Familie zu ernähren. Modeln war eher eine Möglichkeit ihrer Familie in größerem Rahmen zu helfen, anstatt eine bewusste Karrierewahl und so kam der Erfolg überraschend. Mit 17 lebte sie in Paris und war bereits sehr gefragt. Mit 19 kehrte sie nur 10 Tage nach der Geburt ihres ältesten Kindes (dem ersten, der drei Kinder mit ihrem Ex-Mann, dem britischen Aristokraten Justin Portman) auf den Laufsteg zurück. Sie hat in den letzten 15 Jahren alle Karrieremeilensteine, die man als Model erklimmen kann, erreicht und sich den Spitznamen „Supernova“ verdient. Vodianova arbeitete nicht nur mit jedem legendären Fotografen zusammen, zierte als Covermodel zahllose Magazine und schloss Verträge über mehrere Millionen Pfund ab, sie taucht auch regelmäßig in Forbes jährlicher Top-10-Liste der bestbezahlten Models auf.

„Ich liebe das Modeln, weil es wie eine Auszeit von den täglichen Herausforderungen ist, denen ich bei meiner philanthropischen Arbeit begegne, die wirklich sehr stressig sein kann. Es hat fast etwas Therapeutisches.“

In der Modebranche hat Vodianova gute Erfahrungen gemacht und obwohl sie eine große Unterstützerin der #metoo-Bewegung, hat sie glücklicherweise keine eigene Horrorgeschichte zu berichten: „Im Vergleich zu dem, was ich höre und lese, absolut nicht“, sagt sie. „Ich war wirklich gut beschützt. Aber die Zeit ist um, denn Menschen können ihre Macht nicht missbrauchen. Ich möchte, dass diese Branche so ist, wie ich sie kenne. Es gibt kein Zurück mehr. Es geht definitiv nur vorwärts und die Zukunft sieht rosig aus. Das einzige Problem, das ich sehe, ist möglicherweise, wie es die Kreativität beeinflussen wird. Die Kreativität, wie ich sie kenne und die Freiheit, sich mit Bildern auszudrücken, mit Video, mit Mode. Auf jeden Fall sehen wir, dass diese Bewegung für Sicherheit sorgt.“

Nun beschränkt sich ihre Arbeit als Model lediglich auf einige ausgewählte Shootings, große Kampagnen und Laufsteg-Shows. „Ich liebe es, weil es wie eine Auszeit von den täglichen Herausforderungen ist, denen ich bei meiner philanthropischen Arbeit begegne, die wirklich sehr stressig sein kann“, sagt sie. „Es hat fast etwas Therapeutisches.“ Ihr Tagesgeschäft ist vielmehr die Naked Heart Foundation. Die Wohltätigkeitsorganisation, die Familien mit besonderen Bedürfnissen und Behinderungen unterstützt, hat seit ihrem Launch im Jahr 2004 mehr als 55 Millionen US-Dollar zusammengebracht und 190 Spielplätze in Russland und Großbritannien gebaut, sowie ein Familienhilfszentrum in ihrer Heimatstadt. Eine Mission liegt Vodianova persönlich besonders am Herzen: Ihre Schwester Oksana leidet an Zerebralparese und Autismus und so kämpft sie unerlässlich für Spenden. „Früher habe ich viel härter gearbeitet; als ich jung war und bevor ich dann erfolgreich wurde“, sagt sie. „Es war körperliche Arbeit und es fühlte sich erdrückend an, weil ich nichts dagegen tun konnte. Träumereien waren nichts für mich als Mädchen, sie waren einfach kein Bestandteil meines Lebens. Auch heute arbeite ich immer noch sehr hart, aber es hat mehr Leichtigkeit und Zweck. Das ist es alles wert.“

„Das genieße ich überhaupt nicht. Wenn mir jemand 10 Millionen Dollar pro Jahr geben und sagen würde: ‚Natalia, du musst das nicht mehr tun, hier ist das Geld, leg einfach los‘, wäre ich so glücklich.“

Vodianova strahlt eine eiserne Entschlossenheit aus und man bekommt den Eindruck, dass sie „Nein“ als Antwort nicht akzeptiert. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie sich wohl in ihrer Haut fühlt, wenn sie ständig um Gefallen bitten muss. „Das genieße ich überhaupt nicht“, gibt sie zu. „Wenn mir jemand 10 Millionen Dollar pro Jahr geben und sagen würde: ‚Natalia, du musst das nicht mehr tun, hier ist das Geld, leg einfach los‘, wäre ich so glücklich. Es war viel einfacher, als ich anfing, da war es etwas Neues und Frisches. Aber jetzt wiederholt es sich immer; du fragst ständig nach Geld, hast ständig Gespräche, die du nicht haben willst und beschäftigst dich mit Themen, mit denen du dich nicht befassen willst.“ Also, was ist das Geheimnis ihrer Überredungskunst? „Meiner Erfahrung nach, musst du die Bedingungen erschaffen, die es der Person sehr leicht machen, „Ja“ zu sagen, was auch immer das bedeutet – das ist ein sehr individueller Prozess. Du musst deine Hausaufgaben machen, um dieses perfekte Puzzle zu kreieren, das so wunderschön ist und bei dem nur ein einziges Teil fehlt. Das kann dann nur die Person vervollständigen, die du fragst und niemand sonst. Und egal, wer diese Person auch sein mag, sie wird niemals „Nein“ sagen.“

Wie bei den meisten arbeitenden Müttern – auch wenn sie eine von denen ist, der mit viel Unterstützung der Rücken freigehalten wird – ist Zeitmanagement das A und O, um die Dinge tagtäglich am Laufen zu halten. Sie achtet streng darauf, jeden Abend um 19 Uhr ihr Handy beiseite zu legen und geht am Wochenende komplett in ihrem Familienleben auf, wenn sie die Arbeit komplett abschalten kann. „Ich entspanne mich nicht,“ sagt sie, „Mit fünf Kindern ist das Wochenende anstrengender als ein Wochentag, aber es ist fantastisch und chaotisch und anspruchsvoll. Wir freuen uns über all die kleinen Dinge, wenn jemand Klavier spielt, die Babys herumtanzen, mit der Katze spielen, wir draußen sind und einfach nur durch den Pariser Stadtteil Le Marais spazieren oder ein Eis und Crêpes essen gehen. Wir machen nicht zu viele Pläne, wir genießen es einfach.“

„Das einzige Problem, das ich sehe, ist möglicherweise, wie #MeToo die Kreativität beeinflussen wird. Auf jeden Fall sehen wir, dass diese Bewegung für Sicherheit sorgt.“

Vor fast sechs Jahren ist sie nach Paris gezogen, um mit Arnault, dem Vater ihrer beiden jüngsten Kinder zusammenzuleben. Sie ist sich bewusst, dass sich das Leben ihrer Kinder sehr von ihrer eigenen Kindheit unterscheidet. Sie und ihr Partner legen dennoch großen Wert darauf, den Kindern ihre gemeinsame Arbeitsethik mit auf den Weg zu geben und sicherzugehen, dass sie die richtige Perspektive nicht aus den Augen verlieren. „Als die Kinder klein waren, sagten sie, wie Kinder das eben tun: ‚Ich mag mein Bett nicht, ich will nicht in meinem Bett schlafen, ich will bei dir schlafen‘“, erzählt Vodianova. Und ich erwiderte dann, ‚Es ist so ein Privileg, ein eigenes Bett zu haben. Als ich klein war, musste ich mein Zimmer 10 Jahre lang mit meiner Schwester teilen und ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich von meinem eigenen Zimmer, meinem eigenen Bett und Privatsphäre geträumt habe.‘ Und dann schaust du in diese kleinen Gesichter und sie sind wirklich neugierig, aber sie können es nicht verstehen, sie betrachten es nicht aus der gleichen Perspektive. Sie beschweren sich weiterhin. Aber sie versuchen nicht mehr in dein Bett zu kommen!“

„Ich sagte dann zu meinen Kindern, ‚Es ist so ein Privileg, ein eigenes Bett zu haben. Als ich klein war, musste ich mein Zimmer 10 Jahre lang mit meiner Schwester teilen.‘ Und dann schaust du in diese kleinen Gesichter und sie sind wirklich neugierig, aber sie können es nicht verstehen, sie betrachten es nicht aus der gleichen Perspektive.“

Sie arbeitet daran, sich mehr Zeit für sich selbst zu nehmen. Sie macht etwa dreimal pro Woche Sport, geht zu Pilates, versucht sieben Stunden Schlaf pro Nacht zu bekommen und sich gesund zu ernähren. Langfristig freut sie sich auf die Zeit, wenn ihre Kinder älter sind und sie beim Spendensammeln mehr in den Hintergrund treten kann. Vielleicht hat sie dann auch wieder Zeit für Perfektion. „Meine Großmutter ist meine Ikone, sie hat sich immer selbst an erste Stelle gesetzt und war zugleich eine unglaublich großzügige Person“, sagt sie. „Sie hat ihrer Familie und ihrer Gemeinschaft so viel gegeben und sie war ständig am Telefon und immer sehr beschäftigt. Gleichzeitig traf man sie nie ohne ihren roten Lippenstift an, sie sah immer großartig aus und ihr Haus war makellos, denn das verkörperte die Darstellung von dem, wer sie ist und wer sie sein wollte. So möchte ich auf jeden Fall auch eines Tages werden.“