Das Designer-Interview: Virgil Abloh
Was treibt einen der kompromisslosesten Innovatoren und Schöpfer der Mode an, sich stetig neu zu erfinden? VIRGIL ABLOH, Meister des Unerwarteten, setzt sich mit EMMA SELLS zusammen
Virgil Abloh als einen Designer zu bezeichnen, scheint außerordentlich unpassend. Und auch der Berufstitel des „Kreativdirektors“ wird weder seiner umfangreichen Karriere noch seiner Arbeitsmoral gerecht. Der 38-Jährige gehört zu den Menschen, die einem das Gefühl geben, selbst äußerst unproduktiv zu sein. Er ist der Gründer und Leiter des Streetwear-Labels Off-White und neuer Artistic Director für Menswear bei Louis Vuitton, er arbeitet regelmäßig mit DJs zusammen, zeigt demnächst eine Retrospektive seiner Arbeiten im Chicagoer Museum of Contemporary Art und ist der perfekte Businesspartner – egal, ob in Zusammenarbeit mit Ikea, Nike, Byredo oder Jimmy Choo. Eigentlich wohnt er gemeinsam mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in seiner Heimatstadt Chicago, doch an rund 320 Tagen im Jahr befindet er sich auf Reisen; mit dem Handy permanent in der Hand.
„Ich merke es gar nicht“, sagt er in unserem Interview am späten Freitagabend, nachdem wir seit Monaten versucht haben, einen passenden Termin zu finden. „Es gehört eben dazu, wenn ich das machen will, was mir Spaß macht. Es gibt immer eine gewisse Verpflichtung. Aus der Entfernung funktioniert der Job nur schwer. Wenn ich für Louis Vuitton arbeite, muss ich in Paris sein, während Off-White auf mich in Mailand wartet. Ich schätze, die meisten Leute denken, dass sie nicht genug Zeit haben, um ihren Lieblingsbeschäftigungen nachzugehen. Oft fragt man mich: ‚Wie machst du das?‘ Der Tag hat viele Stunden und ein Jahr hat viele Tage.“
Das Unerwartete zu tun, ist für Abloh ganz normal. Sein Weg an die Spitze der Luxusmodebranche war alles andere als gewöhnlich. Als Sohn ghanaischer Einwanderer studierte er Ingenieurwesen und Architektur, bevor er sich als Kreativdirektor und durch die Zusammenarbeit mit seinem langjährigen Freund Kanye West einen Namen machte. Erfahrung sammelte er in der Mens- und Streetwear. Wirklich Aufsehen erregt er jedoch mit seinen Luxuskreationen für Frauen, die in Mailand entstehen und Paris gezeigt werden – Modehauptstädte, die besser für Eleganz und Raffinesse bekannt sind, als für Kapuzenpullover und Turnschuhe – und hat es somit geschafft, den Kleidungsstil der Front Row nachhaltig zu verändern.
„Ich halte mich mit Worten zurück und bin mehr an Taten interessiert. Worte stecken einen nur in eine weitere Schublade. Deshalb konzentriere ich mich auf das Erschaffen von Dingen, die weniger beschreibend sind
“
Seine Modeshows sind ein Kulturphänomen, sowohl abseits der Laufstege als auch im Backstage-Bereich, der vor Fans nur so strotzt. Seine frische und innovative Herangehensweise bedeutet, dass in vielen seiner Interviews die Bezeichnung „Unruhestifter“ zu lesen ist – nicht, dass er sich selbst so nennen würde. „Es passt nicht zu mir und hat auch nichts mit meiner Geisteshaltung zu tun“, erklärt er. „Ich weiß nicht. Ich halte mich mit Worten zurück und bin mehr an Taten interessiert. Worte stecken einen nur in eine weitere Schublade. Deshalb konzentriere ich mich auf das Erschaffen von Dingen, die weniger beschreibend sind. Mir geht es um das finale Werk. Der Name ‚Off-White‘ ist mein Maßstab: Es ist weder schwarz noch weiß oder grau, sondern etwas dazwischen. Es ist in Ordnung, dazwischen zu sein. Es braucht keine Genauigkeit.“
Es ist schwer, Abloh als Außenseiter zu betrachten, jetzt da er sein eigenes Label aufgebaut hat und für eine der größten Traditionsmarken der Welt arbeitet. Die Zeiten, als er mit West und der gemeinsamen Clique zur Paris Fashion Week kam, um in spektakulären Outfits (schauen Sie sich das inzwischen legendäre Streetstyle-Foto von Tommy Ton an) einen Platz bei den Shows zu ergattern, sind längst Geschichte. „Ich stimme zu, dass ich [nun] ein Teil des Establishments bin“, sagt er. „Aber dazu gehöre nicht nur ich, sondern eine ganze Generation. Anstelle einer einzigen Person gibt es heute eine junge Kultur, die in ihren Dreißigern kreativ wird – wir alle gehören zum Establishment, deshalb fangen die Dinge an, anders auszusehen.“
Als er Off-White im Jahr 2013 im Rahmen des künstlerischen Modeprojektes „Pyrex Vision“ gründete, war Ablohs Name und Ästhetik gleichbedeutend mit Streetwear. Das geometrische Logo des Labels avancierte damals zu einer Art Abzeichen. Zusammen mit seinem Branchenkollegen Demna Gvasalia, Gründer von Vetements, machte er das Genre zum Kult. Frauen, die dem Luxuslifestyle mit Föhnfrisur und High Heels Tribut zollten, griffen plötzlich zu Kapuzenpullovern und langärmeligen T-Shirts. Abloh beherrscht das Marketing-Einmaleins wie kein anderer und bewies Geschick, indem er Modeliebhaber in die richtige Richtung lenkte, bevor diese zum nächsten Trend abdrifteten. Vergangene Saison ließ er sich von Prinzessin Diana inspirieren, während in der H/W18 feminine Ensembles und kariertes Tailoring die moderne Office-Garderobe dominieren.
„Es gibt eine Million verschiedene Definitionen von Streetwear, aber für mich ist es nichts Besonderes“, sagt er. „Straßenkleidung auf dem Laufsteg zu sehen, war zu einem gewissen Zeitpunkt faszinierend und interessant für mich. Aber nach und nach hat es sich verändert. Das Besondere wurde gewöhnlich und inspirierte mich auf eine andere Weise. Ich fing an, Ready-to-Wear straßentauglich zu machen und änderte so das Verhältnis.“
„Ich stimme zu, dass ich [nun] ein Teil des Establishments bin. Aber dazu gehöre nicht nur ich, sondern eine ganze Generation. Anstelle einer einzigen Person gibt es heute eine junge Kultur, die in ihren Dreißigern kreativ wird – wir alle gehören zum Establishment, deshalb fangen die Dinge an, anders auszusehen
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Er kreiert Kleidung für Power-Frauen, die keine Angst davor haben, sich und ihren Stil darzustellen. Ein Beispiel ist Serena Williams, deren viel diskutiertes Catsuit-Tutu-Tenniskleid einer Zusammenarbeit zwischen Abloh und Nike entstammte. „Ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr sie mich inspiriert“, erklärt Abloh. „Wissen Sie, es erinnerte mich daran, warum Mode… Ich hatte Probleme damit, zu verstehen, weshalb Mode sich willkürlich anfühlen kann oder als wäre es nicht wirklich wichtig. Laufsteg-Shows sind eine Inszenierung und sehr bildhaft, oder? Sportbekleidung ist sachlicher und praktisch und weist eine gewisse Ästhetik auf. Diesen Ansatz verfolge ich bei meiner Arbeit gerne. Es ist eine neue Herausforderung und eine andere Sichtweise auf meine Arbeit.
Angesichts seiner Kreationen mag man davon ausgehen, dass es Abloh mehr um Ideen und Ästhetik geht. In Wirklichkeit ist er aber eher praktisch veranlagt. Seiner Mutter, die in seiner Kindheit und Jugend als Näherin arbeitete, verdankt er seine guten Kenntnisse vom Zusammenstellen von Kleidungsstücken. „Das Nähen ist wie Fahrradfahren. Man verlernt nicht, wie es geht“, sagt er. „Ich bin handwerklich begabt, wissen Sie? Auf eine gewisse Art und Weise bin ich insgeheim ein Kunsthandwerker. Ich designe nicht nur, sondern erschaffe Dinge. Die Leute sehen meine Arbeit und das Ergebnis, dass sie mit meinem Namen assoziieren. Sie werfen aber keinen Blick hinter die Kulissen und realisieren nicht, dass ich es tatsächlich schon einmal selbst gemacht habe. Sie wissen nicht, dass sich in meinem Studio zerschnittene Schuhe, Stücke von Papier und Scheren befinden.“
Es ist eine Erinnerung daran, sein Talent, seine Ambitionen und Kreativität nicht zu unterschätzen. Egal, welchem Projekt er sich als nächstes widmet, man kann davon ausgehen, dass er die Grenzen neu definiert und Erwartungen übertrifft. Praktischerweise ist das genau das, was ihm gefällt. „Ich bin jemand, der durch das Gefühl von Nervosität aufblüht. Normalerweise ist es das, was mich dazu antreibt, meine Idee zu überdenken, wenn ich mir zu sicher bin“, sagt er. „Nervosität ist ein Schutzmechanismus, um nichts zu unternehmen. Menschen nehmen sich diesem Gemütszustand an und es kann sich so echt anfühlen, dass man irgendwann davon überzeugt ist, etwas nicht tun zu können. Als ich gelernt hatte, dass es ein Mythos ist, dass man manche Dinge nicht machen kann und dass es keine Rückwirkungen hat, habe ich das Gefühl abgelehnt. Es ist wie ein Geist; es ist so als würde man denken, dass sich ein Geist unter dem Bett befindet, wenn man im Grunde genommen einfach aufstehen und machen kann, was man will.“
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