Körper & Geist
mit
Gisele

Gisele Bündchen braucht keine Vorstellung. Sie ist nicht nur für ihre Bilderbuchkarriere bekannt – 15 Jahre lang war sie das meistbezahlte Model der Welt – sondern auch ihren gesunden und entspannten Lebensstil. Aber das war nicht immer so. Zum 5. Jahrestag ihres sensationellen Covers für die erste Ausgabe von PORTER kehrt das brasilianische Supermodel (38) zurück, um mit CAROLYN KORMANN über die Krise zu sprechen, die sie dazu bewegte, ihr Leben zu überdenken. Fotos: MARIO SORRENTI. Styling: GEORGE CORTINA
Gisele Bündchen führte vor Kurzem über ihr neues Buch Lessons: My Path to a Meaningful Life mit Robin Roberts, Nachrichtensprecherin bei ABC News, ein Fernsehinterview bei sich zuhause durch. Als Roberts sich nach einem bestimmten Kapitel des Buches erkundigte, in dem Bündchen eine dunkle Periode ihrer frühen Zwanziger beschreibt, begann das Model zu weinen. Bisher hatte sie diese Zeit vor fast allen geheim gehalten: Als ihre Karriere auf dem Höhepunkt war, sie ununterbrochen arbeitete und um die Welt flog, setzten lähmende Panikattacken und große Angstzustände, besonders vor engen Räumen, ein. Bündchen hatte Angst, sich mitzuteilen. „Ich hatte das Gefühl, meine Panikattacken mit niemandem teilen zu können“, erzählt sie mir. „Ich dachte, vielleicht habe ich nicht das Recht dazu, schließlich machen Menschen auf der ganzen Welt schwere Zeiten durch. Also habe ich meine Gefühle unterdrückt, und je mehr ich sie unterdrückte, desto größer wurde das Problem.“
An einem bestimmten Punkt trat sie auf den Balkon ihrer Wohnung heraus und dachte darüber nach, sich in die Tiefe zu stürzen. Natürlich tat sie das nicht. Vielmehr merkte Bündchen, dass sie etwas in ihrem Leben ändern musste. Sie musste nach Hause gehen, um bei ihrer Familie zu sein, in sich hineinhören und wieder eins mit der Natur werden. Sie hatte die Kontrolle über sich selbst verloren, lebte aus dem Koffer und von Mokka-Frappuccinos, Zigaretten und Wein. Ein Arzt riet ihr zu Xanax, aber sie wollte keine Tabletten nehmen. Stattdessen entwickelte sie neue Regeln, um sich von dem Teufelskreis zu lösen – kein Zucker, kein Koffein und kein Alkohol. Sie bat ihren Agenten, ihre Aufträge zu reduzieren, und begann mit Yoga und langen Meditationseinheiten, einschließlich mehrtägiger Aufenthalte in Schweigemeditationszentren. Sie flog zurück nach Brasilien und verbrachte dort Zeit mit ihren Eltern und ihren Schwestern (wovon sie insgesamt fünf hat, darunter ihre Zwillingsschwester Pati). Zusammen ging es auf eine Reise nach Südafrika. Darüber hinaus verbrachte sie so viel Zeit wie möglich im Freien, wo sie sich am wohlsten fühlt.
„Ich hatte das Gefühl, meine Panikattacken mit niemandem TEILEN zu können. Also habe ich meine Gefühle UNTERDRÜCKT, und je mehr ich sie unterdrückte, desto GRÖSSER wurde das Problem“
Bis zum letzten Januar hatte Bündchen nie daran gedacht, ein Buch zu schreiben. „Ich weiß! Es ist verrückt“, sagt sie. Aber sie hatte sich bereits im Briefeschreiben geübt; inspirierende Briefe an junge Frauen, die sie gar nicht kannte. Freunde, Freunde von Freunden oder andere Bekannte baten sie um Hilfe. Zum Beispiel durchlebte die Tochter von jemandem eine schwierige Zeit. „Die Bitten kamen in den willkürlichsten Momenten, beispielsweise als ich gerade beim Zahnarzt war“, sagt sie. „‚Oh, Gisele, meine Nichte macht eine schwere Zeit durch, würdest du ihr etwas schreiben?‘ Es war irgendwie lustig, weil es immer in den zufälligsten Momenten passierte.“ Sie begann, die Geschichten ihrer Briefe zu teilen. „Indem ich meine Verletzlichkeit zeigte und teilte, konnten andere erkennen, dass es Hoffnung gibt, und das Licht am Ende des Tunnels sehen.“ Sie bestätigt, dass das Feedback erstaunlich war. „Die Briefe schienen den Mädchen wirklich zu helfen. Eine von ihnen rief ein Anti-Mobbing-Programm an ihrer Schule ins Leben, eine andere gab ihre Bulimie auf.“
„In meiner Familie gibt es sechs starke, schöne FRAUEN. Seit jeher unterstützen wir uns gegenseitig, helfen einander und LIEBEN uns. Anderen MODELS scheint das nicht wichtig zu sein“
„Die #MeToo-Bewegung hat Frauen VEREINT. Das ist eine tolle Sache. GEMEINSAM sind wir stärker. Ich frage mich, WARUM wir nicht schon vorher so waren“
Bündchen las über all die schrecklichen Erfahrungen, die viele junge Frauen (und viele Models) gemacht hatten und nun dank der #MeToo-Bewegung teilten. Sie wollte ihnen allerdings in noch größerem Rahmen helfen. Sie überlegte sich, das Buch als einen offenen Brief zu gestalten, in dem sie über ihre schwierigen Zeiten, wie sie überlebt und welche Lehren sie daraus gezogen hatte, schreibt. Der wichtigste Aspekt von #MeToo ist für sie, dass der Skandal Frauen zusammengebracht hat.
„In meiner Familie gibt es sechs starke, schöne Frauen“, sagt sie. Ihre zweitälteste Schwester ist Bundesrichterin, alle anderen arbeiten für Bündchen. Ihre jüngste Schwester Rafaela (kurz Fafi) ist ihre Assistentin. Es ist ein Wunder der Natur, dass Bündchen mindestens einen Kopf größer ist als der Rest der Sippe. „Ich habe von Kindesbeinen an gelernt, dass es wichtig ist, sich gegenseitig zu unterstützen. Wir helfen einander und lieben uns. Als ich von zuhause wegging, merkte ich, dass anderen Models das nicht wichtig zu sein scheint. Ich verstand nicht, warum niemand das Beste für mich wollte, wenn ich das Beste für alle wollte.“ Sie glaubt, dies hätte sich nun geändert. „Die #MeToo-Bewegung hat Frauen vereint. Das ist eine tolle Sache. Gemeinsam sind wir stärker“, sagt sie und blickt verträumt in den Raum, als ob sie etwas sieht, das ich nicht sehen kann. Dann dreht sie sich um und schaut mich an. „Ich frage mich, warum wir nicht schon vorher so waren.“
Lesen Sie das gesamte Interview und sehen Sie sich die Fotostrecke in der Printausgabe zum 5-jährigen Jubiläum von PORTER an – ab dem 8. Februar am Kiosk erhältlich
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