Die Wegbereiterin
mit
Amandla Stenberg

Seit AMANDLA STENBERGS Rolle in Die Tribute von Panem ihr zum Durchbruch verhalf, ist sie nicht mehr zu bremsen. Die Schauspielerin spricht mit MICHA FRAZER-CARROLL über den Umgang mit Angstzuständen, ihr politisches Engagement und die neue Lebensperspektive, die sich durch die Pandemie ergeben hat. Könnte es sein, dass ein zukünftiger Rap-Star darauf wartet, die Bühne zu betreten?
Beim Gespräch mit Amandla Stenberg hat man einerseits das Gefühl, man sitzt mit einer guten Freundin zum Quatschen zusammen, andererseits unterhält man sich mit einer überzeugenden Stimme und Vertreterin des jungen Hollywoods. Während des Interviews über Zoom geht es schnell um verschiedenste Themen wie die Enttäuschung über die Darstellung von Gen Z in den Medien bis hin zu Kritik an elitären Hierarchien, die sich bei queeren Zoom-Partys entwickelt haben. Und es wird auch viel gelacht.
Das Lachen verstummt und Stenberg erinnert sich an die turbulenten Zeiten des vergangenen Jahres. Seit zwei Jahren lebt sie in Airbnbs und mietet Wohnungen nur kurzfristig – und das abwechselnd in New York, L.A., Paris und Kopenhagen. Seit Beginn der Pandemie fühlt sie sich entwurzelt. „Ich glaube, manchmal vergesse ich, von welchem Blickwinkel aus ich die Situation betrachte“, sagt sie. „Manchmal stehe ich unter Stress und frage mich, warum ich unter Panikattacken leide oder warum mich Paranoia und Angst plagen – und dann werden mir die äußeren Umstände wieder bewusst.“
Natürlich gibt es auch vieles, für das sie dankbar ist – sie betont, dass sie nicht weinerlich klingen möchte, vor allem da die Schauspielerin, deren Vater Däne ist, während des letzten Jahres drei Monate in der ländlichen Hügellandschaft Dänemarks verbrachte. „Ich bin dankbar dafür, dass ich die Möglichkeit hatte, mein Leben zu entschleunigen – zum Beispiel aktiv über meine Gewohnheiten nachzudenken, die Art wie ich den Tag verbringe und was meine Prioritäten sind.“
Die 22-Jährige, die non-binär ist und sowohl die englischen Pronomen she/her als auch they/them benutzt, hat einige Prioritäten. In erster Linie ist sie Schauspielerin. Sternberg hatte ihren Durchbruch 2012 als Rue in Die Tribute von Panem, wurde seither aber auch für ihren Einsatz für progressive Politik bekannt, nachdem 2015 ein Schulprojekt über kulturelle Aneignung große Bekanntheit erlangte. In dem Video mit dem Titel Don’t Cash Crop My Cornrows [zu dt. Macht aus meinen Cornrows keinen Profit], das sich rasendschnell verbreitete, fragte Stenberg als Schülerin mit asymmetrischen Stirnfransen damals: „Wie wäre es wohl in Amerika, wenn wir Schwarze Menschen so sehr liebten, wie wir Schwarze Kultur lieben?“
Seither hat sich Stenberg immer wieder gegen das Label „Aktivistin“ gewehrt und betont, dass sie nicht an vorderster Front stehe. „Auch wenn Aktivismus die treibende Kraft ist, die hinter meiner Arbeit steckt, erweckt dies den Eindruck von Ernsthaftigkeit, oder dass ich keine Fehler mache“, wurde sie 2018 in der New York Times zitiert. Nichtsdestotrotz sind die Themen Anti-Rassismus und Feminismus regelmäßig in ihrer Arbeit wiederzufinden. Der Film The Hate U Give aus dem Jahr 2018, adaptiert nach Angie Thomas’ Jugendbuch-Bestseller und basierend auf der Black-Lives-Matter-Bewegung, ist eines ihrer bemerkenswertesten Projekte. Die Geschichte wurde als Reaktion auf die Erschießung von Oscar Grant 2009 geschrieben und handelt von der 19-jährigen Starr Carter, deren Leben auf den Kopf gestellt wird, als ihr bester Freund während einer Verkehrskontrolle von einem Polizisten erschossen wird.
Nach der Ermordung von George Floyd im vergangenen Sommer hatte das Problem Polizeigewalt ein Wiederaufleben weltweiter Black-Lives-Matter-Proteste zur Folge. Während manche sich durch das Posten schwarzer Quadrate auf Instagram mit der Bewegung identifizierten, organisierte Stenberg leise im Hintergrund. Auf meine Frage, wie sie die Zeit der Proteste emotional erlebte, seufzt sie laut. „Mein Gott… Ich weiß nicht, ob mir jemals zuvor jemand diese Frage gestellt hat.“
„Es war eine Herausforderung, verschiedene Bedürfnisse auszubalancieren. Es gab das Bedürfnis nach Sicherheit, das Bedürfnis nach Abstand und dann gab es da auch das Bedürfnis, ordentlich auf den Tisch zu hauen… Aber auch das Bedürfnis, Wut, Frustration und Schmerz auszudrücken. Und dann das Bedürfnis nach Gemeinschaft, um das Erlebte zu besprechen und sich zu erholen.“ Diese Gemeinschaft fand Stenberg bei Protesten, in Gruppenmeetings auf Zoom sowie in der Freundschaft mit Patrisse Cullors – der Mitbegründerin von Black Lives Matter und Leiterin der Ortsgruppe in L.A.
Unter anderem bot Cullors eine langfristige Vision, die in einem Moment von Chaos so dringend gebraucht wurde. „Viele von uns hatten das Gefühl, ‚Das ist der Moment, wir müssen ihn nutzen‘… Doch inmitten dieser dynamischen Energie vermittelte sie Ruhe, Bereitschaft und Einsatz für Veränderung auf eine viel nachhaltigere Art und Weise.“
„Den meisten Menschen of COLOR ist bewusst, dass es sich hier nicht um einen VORRÜBERGEHENDEN Moment handelt. Es brodelt schon seit JAHREN“
Dazu gehörte das Bewusstsein, dass die Bewegung auch bei schwindender Aufmerksamkeit der Medien weitergehen muss – Stenberg merkt an, dass die Unterhaltungsindustrie sich diesen Ratschlag zu Herzen nehmen könnte. Sie erinnert sich an Verzögerungen bei der Produktion von The Hate U Give, da angenommen wurde, dass „der Film nur eine bestimmte Zeit lang relevant sein würde oder dass wir ‚das Eisen schmieden müssen, solange es heiß ist.‘ Diese Aussage fand ich bizarr, denn den meisten Menschen of Color ist bewusst, dass es sich hier nicht um einen vorrübergehenden Moment handelt. Es brodelt schon seit Jahren.“
Im Januar veröffentlichte Thomas das Prequel zu ihrem Buch – Concrete Rose spielt 17 Jahre vor The Hate U Give in der gleichen fiktionalen Gegend in den amerikanischen Südstaaten namens Garden Heights. Stenberg erzählt, dass die Autorin ihr bereits ein Exemplar gesendet hat – und sie ist schon sehr gespannt darauf und auch ein bisschen nervös, es zu lesen. „Ich hoffe, ich höre mich nicht wie eine überhebliche Schauspielerin an, aber ich glaube, dass es emotional schwierig wird, aber auch wunderschön… Diese Geschichte liegt mir einfach sehr am Herzen.“
„Ich habe mich GEFRAGT: ‚Ist es wirklich das, was ich will? Wurde diese ENTSCHEIDUNG für mich getroffen? Gibt es so etwas wie FREIEN Willen?‘“
Die Pandemie hat es Stenberg erlaubt, eine Pause vom Geschichtenerzählen einzulegen und andere kreative Ausdrucksformen zu erkunden. „Ich habe bemerkt, wie sehr ich mich selbst eingeschränkt habe, zum Beispiel, was ich künstlerisch erforschen kann“, sagt sie. Sie wuchs in L.A., umringt von Schauspielern auf, (ihre Mutter war früher Journalistin in der Film- und Unterhaltungsbranche) und war fünf Jahre jung, als sie sich ihre erste Rolle in einer Puppenwerbung sicherte. Dementsprechend wurde ihre Berufswahl von Anfang an beeinflusst. „Ich habe mich gefragt: ‚Ist es wirklich das, was ich will? Wurde diese Entscheidung für mich getroffen? Gibt es so etwas wie freien Willen?‘“
Sie sagt, manchmal das Gefühl gehabt zu haben, eine äußere Kraft würde sie immer weiterziehen. Als ihre Schauspiel-Engagements in der ersten Hälfte des Jahres 2020 ins Wasser fielen, blühte Stenberg in anderen kreativen Tätigkeiten auf. Dazu gehörte zu lernen, sich selbst lilafarbene Zöpfe zu flechten, sowie das Wiederentdecken des Instruments ihrer Kindheit – der Violine. „Ich begann über all die Dinge nachzudenken, die ich liebe und die Grenzen, die ich mir in meinem Kopf selbst gesetzt hatte“, sagt sie. „Ich glaube, viele dieser Grenzen haben mit dem Hochstapler-Syndrom zu tun.“
Musik ist Stenberg „das Liebste auf der Welt“, nicht nur die Violine, sondern auch das Singen und zu produzieren. Obwohl sie bereits um die 30 Demos aufgenommen hat, zögert sie, ihre Musik mit dem Rest der Welt zu teilen. Bisher hat sie nur mit männlichen Produzenten gearbeitet und da gab es Momente, in denen sie etwas Ungewöhnliches oder sogar ein bisschen Peinliches ausprobieren wollte, jedoch den männlichen Blick fühlte, der sie davon abhielt: „Er durchdringt dich, ohne dass du es bemerkst.“
Heute erlaubt sie sich jedoch Dinge nach Lust und Laune auszuprobieren, ohne sich vor Blamage zu fürchten. Sie holt den Text eines Rap-Songs hervor, den sie aus der Perspektive eines „bitchy Roboters“ geschrieben hat. „Catch you up with my laser vision. So easy, it’s my algorithm“, rappt sie im Poetry-Slam-Stil, bevor sie einen Lachanfall bekommt.
Es scheint, Stenberg hat in letzter Zeit viel darüber nachgedacht, wo sie hingehört und wo nicht. Das hat viel Positives zur Folge. Zum Beispiel kritisiert sie die Bevorzugung, die light-skinned Schauspieler wie sie selbst in der Branche erfahren. „Ich glaube nicht, dass meine Präsenz etwas Radikales ist in Bezug auf die Repräsentation Schwarzer Menschen in den Medien“, sagt sie. Als Konsequenz daraus schied sie freiwillig aus einer der letzten Casting-Runden für Marvels Blockbuster Black Panther aus. Sie fand, dass die Rolle von einer Schwarzen Person mit dunklerer Hautfarbe gespielt werden sollte.
„Ich bemerke, wie die Medien mich und andere light-skinned Schauspieler als allgemeine Repräsentation für Schwarze verkaufen wollen. Es schadet uns und es ist ekelhaft – und ehrlich gesagt, ist es fies.“ Der Ärger bebt in ihrer Stimme. „Es ist hinterlistiger Rassismus.“ Sie sagt, dass sie nun sehr vorsichtig geworden ist, wenn man versucht, sie als Aushängeschild für die Erfahrungen aller Schwarzen Menschen vorzuschieben. „Ich kann nur einen kleinen Teil dieser Erfahrung vorweisen und dieser Teil strotzt nur so vor Light-Skin-Privilegien.“
Auf meine Frage, welche Projekte und Rollen sie interessant findet, antwortet sie sofort: „Lesbisch.“ Darin liegt ihre Leidenschaft (und im Moment ist ein anonymes lesbisches Meme-Profil, dessen Namen sie mir nicht verrät, ihr Ventil dafür). Laut Stenberg war es als Teenager schwieriger, queere Projekte zu erforschen, doch jetzt mit 22 ist sie bereit, selbst die Zügel in die Hand zu nehmen. „Es war sehr befriedigend, an dem Punkt anzukommen, an dem mir bewusst wurde: „Oh Moment, das ist mein Ding, ich sitze am Steuer!‘“
Für das neue Jahr und die neue US-Präsidentschaft hat Stenberg die Hoffnung, dass es zumindest weniger Anlass zur Besorgnis in ihren Gemeinschaften gibt. Sie fügt hinzu, dass dies uns allen helfen könnte, uns mehr über die Probleme aufzuregen, deren Lösung ihr so am Herzen liegt. „Ich hoffe, wir bekommen den mentalen Freiraum, um uns besser zu organisieren, uns mehr zu lieben und Gutes zu tun.“
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