Sinn & Sinnlichkeit
mit
Ashley Graham

Es wäre einfach, ASHLEY GRAHAM als das Model abzustempeln, das „kurvig“ auf die Bildfläche der Modebranche gebracht hat, aber damit würde man der Aktivistin, Autorin, Podcasterin, Unternehmerin und Mutter einen großen Bärendienst erweisen. Hier spricht sie mit PHOEBE LOVATT über eine mutige Lebensweise, darüber, wie Akzeptanz wirklich aussieht und warum sie sich nicht mehr um Kleinigkeiten schert
An einem Montagmorgen Ende März führt mir Ashley Graham über Zoom ihre Unterwäsche vor. Auf meine Frage, wie sie die vergangenen, modisch recht verwirrenden Monate gemeistert hat, die geprägt waren von Lockdowns und virtuellen Meetings, schwenkt sie ihre Laptop-Kamera herum und zeigt mir ihre schwarze hochgeschnittene Unterhose. (Von der Hüfte aufwärts trägt sie einen simplen naturfarbenen Pullover, kein Make-up und meint, ich hätte „Glück, [dass sie] einen BH trägt“.)
Seit sie im Alter von 16 Jahren mit dem Modeln angefangen hat, ist Graham zu einem der erfolgreichsten Models der Welt avanciert – „kurvenreiche Mode, Plus-Size…wie auch immer man uns nennen möchte“, sagt sie. Jetzt, mit 33, ist sie bekannt für die lautstarke Rolle, die sie in der Body-Positivity-Bewegung spielt. Sie nutzt Interviews, Brand-Partnerschaften und ihre digitale Plattform (zurzeit hat sie 12,4 Millionen Instagram-Follower), um die Akzeptanz aller Körpertypen und Größen voranzutreiben. Oft hilft ihr auch ihre eigene Kleidergröße 42 dabei, ihren Standpunkt zu vertreten – doch sie stellt schnell klar: „Ich poste keine halbnackten Bilder von mir, um Likes zu bekommen. Ich poste mich halbnackt, damit jemand, der zehn Jahre jünger ist als ich, sieht, dass es nicht ungewöhnlich, diesen seitlichen Hintern oder diese Hüftdellen zu haben.“
Graham unterhält sich mit mir von ihrer Wohnung in Brooklyn aus, wo sie lebt, seit sie ihren Heimatstaat Nebraska mit gerade einmal 17 Jahren verlassen hat – „ich sagte nur: ‚bis später, ihr Trottel!‘“, lacht sie. Sie hat nichts von ihrer bodenständigen Herzlichkeit aus dem mittleren Westen der USA verloren. Vielleicht liegt es auch daran, dass sie gerade für längere Zeit ihre Familie besucht hat. Nachdem sie im Januar 2020 ihr erstes Kind, Isaac, willkommen geheißen hatten, trafen Graham und ihr Mann Justin Ervin die Entscheidung, zurück nach Nebraska zu gehen, als die Pandemie ausbrach. Anfangs waren ein paar Wochen geplant, doch letztendlich blieben sie für sechs Monate, und sie konnte „den Mutterschaftsurlaub genießen, den ich nie hätte verlangen können“, sagt sie. „Ich konnte viel Zeit mit meiner Mutter und meinem Mann verbringen. Meine Mutter hat jetzt auch einen neuen Freund und so konnte ich ihn richtig kennenlernen. Es gab definitiv eine Menge Hoffnungsschimmer.“
Graham sagt von sich selbst, dass sie ein Mensch ist, der „das Glas halb voll sieht“ und daher gut darin ist, die Sonnenseiten zu sehen. Ihren außergewöhnlichen Optimismus schreibt sie dem gemeinsamen Beten mit Ervin (die beiden haben sich vor 10 Jahren in der Kirche kennengelernt) und regelmäßigem Tagebuchführen zu, vor allem seit dem Beginn der Pandemie. „So viel habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht Tagebuch geschrieben und ich mache es nicht einmal am Laptop, wie ein normaler Mensch“, lacht sie. „Schreiben Leute eigentlich noch mit einem Stift? Denn ich mache das und meine Hand ist echt schon verkrampft!“
Auf ihren Social-Media-Plattformen wirkt Graham einerseits wie die beste Freundin, die immer einen lustigen Spruch auf den Lippen hat, andererseits wie ein inspirierender Motivationscoach: Erst beatboxt sie auf TikTok nach einem Koffeinschub in ihren Kaffeebecher, dann postet sie unbearbeitete Fotos von ihren Schwangerschaftsstreifen auf Instagram oder fordert ihre Twitter-Follower auf, ihre Affirmationen der Woche zu teilen. „Ich bin mutig! Ich bin großartig! Ich bin schön! Ich bin es wert!“, ruft Graham, als ich sie nach ihren persönlichen Mantras frage.
„Ein BABY zu bekommen und dann gleich darauf bricht eine PANDEMIE aus, das rüttelt einen schon wach! Man denkt sich, okay, es ist an der Zeit DURCHZUATMEN“
Die Affirmationen scheinen zu wirken. Obwohl sie darauf besteht, dass die Pandemie ihr geholfen hat, kürzer zu treten – „ein Baby zu bekommen und dann gleich darauf bricht eine Pandemie aus, das rüttelt einen schon wach! Man denkt sich, okay, es ist an der Zeit durchzuatmen“ – arbeitet Graham gerade an „vielen Projekten mit Brands und bewirbt sich fürs Fernsehen“. Details verrät sie nicht, doch sie hat große Pläne für ihren Podcast Pretty Big Deal, wo sie kürzlich Gäste wie Jada Pinkett Smith und die Mitbegründerin von Black Lives Matter, Patrisse Cullors, begrüßt hat. Sie befindet sich derzeit in der Vorbereitung der vierten Staffel und sagt, ihr Traum sei es, den Podcast in „eine große Community zu verwandeln, die sich auf Selbstbewusstsein fokussiert, denn ich glaube, die Welt leidet stark an einem Mangel davon. Das betrifft nicht nur Frauen, sondern auch Männer.“
Während des Lockdowns gesellte sich Graham zur Gen Z auf TikTok und hat sich sehr darüber gefreut, dort eine neue Legion junger Menschen zu finden, die Body-Positivity in den Mainstream trägt. „Es ist so schön zu wissen, dass die nächste Generation auf sich Acht gibt und sich regelmäßig zu diesem Thema austauscht“, sagt sie. „Ich bin dort als Oma unterwegs, so in die Richtung [sie gibt ihrer Stimme einen komödiantischen Klang]: ‚Hey, alle zusammen! Wir sprechen über diese Dinge schon seit ziiiiiemlich langer Zeit.‘“
„Nach meiner Schwangerschaft musste ich mich auf eine NEUE Reise begeben, was meinen KÖRPER anbelangt – ich musste diese Reise verstehen und sie AKZEPTIEREN“
Ihren schmerzhaften Weg zur Selbstakzeptanz beschreibt Graham in ihrem TEDx-Talk aus dem Jahr 2015 mit dem Titel „Plus-size? More like my size“, der mehr als vier Millionen Mal angesehen wurde. Graham findet, dass sich der Diskurs rund um Körpervielfalt und Body-Positivity „stark entwickelt“ hat, seit ihrem ersten Modelauftrag im zarten Alter von 13. „Heutzutage sprechen nicht nur Models und Influencer darüber, sondern die ganze Modeindustrie ist involviert“, merkt sie an. „Und wenn Worten keine Taten folgen, wird man zur Rede gestellt.“
Gleichzeitig findet Graham, dass es noch einige Zeit dauern wird, bevor ihr Ziel erreicht ist: „Der Punkt, an dem [Frauen] ihre Körper gar nicht mehr rechtfertigen müssen.“ Sie fühlt sich hin- und hergerissen zwischen der Tatsache, dass ausuferndes Retuschieren in den sozialen Medien Körperdysmorphie begünstigt, während sie auch dankbar ist, dass Plattformen wie Instagram ihr und vielen anderen die Möglichkeit geben, „zu sagen, was schön und was in Ordnung ist. Ich hätte mir gewünscht, dass es in meiner Jugend auch jemanden gegeben hätte, der so geradeheraus spricht wie ich und keine Angst hat, Cellulite und Rückenfett zu zeigen, damit ich gewusst hätte, dass das normal ist. Dass ein Körper so aussieht.“
„Ehrlich gesagt bevorzuge ich derzeit ALLES, was schnell geht. Doch die GRENZE ziehe ich bei Zwei-in-eins-Produkten für Shampoo UND Spülung“
Sie gibt zu, dass die Mutterschaft sie herausgefordert hat, ein neues Level an Frieden mit sich selbst zu erreichen. „Das war eine große Sache“, sagt sie über ihre Schwangerschaft. „Anfangs fühlte es sich so an, als würde ein Alien meinen Körper übernehmen und ich werde immer runder und runder. Dann kam dieser Alien heraus und ich dachte nur: ‚Oh mein Gott, ich liebe dich.‘ Und es macht dir nichts mehr aus. Doch dann kam Covid und alle Fitnessstudios schlossen und ich lebte bei meiner Mutter und aß jeden Tag Zimtschnecken“, sagt sie lachend und rollt mit den Augen. „Wenn du schwanger bist, erzählen dir die Leute, dass du durchs Stillen Gewicht verlierst. Doch das ist eine Lüge! Nach meiner Schwangerschaft musste ich mich auf eine neue Reise begeben, was meinen Körper anbelangt – ich musste diese Reise verstehen und sie akzeptieren.“
Graham sagt, sie „denkt nun mehr nach“ als früher, wenn sie Outfits auswählt. „Hauptsächlich ist es mir wichtig, dass Kleidung komfortabel ist, aber ich achte schon auf Style, ich plane ein bisschen mehr.“ Wie bei den meisten von uns besteht ihre aktuelle Garderobe aus Jogginghosen, doch sie verleiht ihnen gerne ein Upgrade mit Pullovern von Frankie Shop und The Row und Pumps von Prada. Ihre Pflegeroutine ist im Moment ähnlich zurückhaltend: „Ehrlich gesagt bevorzuge ich derzeit alles, was schnell geht. Doch die Grenze ziehe ich bei Zwei-in-eins-Produkten für Shampoo und Spülung.“ Zweimal im Monat gönnt sie sich eine kosmetische Gesichtsbehandlung und fügt fröhlich hinzu: „Ich habe gerade erst wieder angefangen, meine Achseln zu rasieren!“
Mutter zu werden hat „alles verändert“, sagt Graham. „Seit er da ist, fühle ich mehr Ruhe und Frieden in meinem Leben, denn ich denke mir, warum soll ich mich um Kleinigkeiten sorgen?“ Seit der Geburt ihres Sohnes hat Graham das Gefühl, ein neues Level an Selbstbewusstsein erreicht zu haben, das sogar ihr zuvor unbekannt war: „Ich habe mein Leben schon immer mutig und unerschrocken gelebt, doch meine Hausgeburt und ihn in einer Pandemie aufzuziehen, hat mich noch mehr darin bestärkt. Ich schätze, ich bin ziemlich furchtlos. Es fühlt sich einfach gut an.“
Auch New York fühlt sich gut an, wie es sich vom langen Winter-Lockdown erholt, sagt Graham: „Es ist ruhiger als sonst, doch Hoffnung liegt in der Luft“, beobachtet sie ihre langjährige Wahlheimat. „Man fühlt, dass die Leichtigkeit zurückkommt.“
„Durch diese ganze Sache wurde mir der WERT von Familie und GEMEINSCHAFT richtig bewusst. Dafür bin ich sehr DANKBAR“
Was sind Grahams Hoffnungen für die neue Welt nach einem so lebensverändernden Jahr? „Durch diese ganze Sache wurde mir der Wert von Familie und Gemeinschaft richtig bewusst. Dafür bin ich sehr dankbar“, sagt sie. „Das ist etwas, das ich mir in meiner Karriere und auch in Zukunft beibehalten möchte.“ Mit ihrer typischen positiven Einstellung sagt Graham, dass sie glaubt, dass das vergangene Jahr „viel Optimismus und Hoffnung für das Land und die Welt geschaffen hat, weil wir es gemeinsam durchstehen. Das zaubert mir wirklich ein Lächeln ins Gesicht.“