Coverstory

Die Einzelkämpferin

mit

Ellen Page

Nachdem sie mit 20 Jahren ihre erste Oscar-Nominierung erhielt, war Ellen Page in Kino-Blockbustern und populären Filmserien zu sehen. Doch während sie vor der Kamera Selbstbewusstsein ausstrahlte, hatte sie hinter den Kulissen mit lähmender Angst zu kämpfen. Inzwischen hat sich die Schauspielerin zu ihrer Homosexualität bekannt und ist glücklich verheiratet. JANE MULKERRINS erklärt sie, warum die Repräsentation von Individuen, die sich als LGBTQ identifizieren, in Hollywood verbesserungswürdig ist

Foto Tiffany NicholsonStyling Tracy Taylor
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Oben: Blazer und Hose von Helmut Lang. Hemd von Alex Mill. Socken von Falke. Sneakers von Veja. Dieses Foto: Blazer und Hose von Stella McCartney. Hemd von Joseph. Sneakers von Common Projects. Ring: Ellens eigener.

„Als ich bekannter wurde, sagten mir Leuten in der Branche ganz klar: ‚Niemand darf wissen, dass du lesbisch bist.‘ Ich wurde unter Druck gesetzt und oft dazu gezwungen, Kleider und hohe Schuhe bei Events und Fotoshootings zu tragen.“ Ellen Page verdreht die Augen. „Als ob Lesben keine Kleider und hohe Schuhe tragen würden. Aber ich werde mich nie wieder in etwas hineinstecken lassen, in dem ich mich nicht wohl fühle.“

Modisch befindet sich die 32-jährige Schauspielerin heute morgen sehr wohl in ihrer Komfortzone; und sie ist glücklich, sich geoutet und geheiratet zu haben. Es ist ein kalter Januartag in New York und der Wind peitscht über den nahegelegenen Hudson River. Page kommt gegen das Wetter gewappnet in einem voluminösen Mantel, einem karierten Hemd, Jeans und Mütze an. Sie und ihre Frau, die 24-jährige Tänzerin und Choreographin Emma Portner, sind kürzlich aus Los Angeles, wo Page vorher fast zehn Jahre lang lebte, hierhergezogen. „Ich liebe öffentliche Verkehrsmittel und gehe gerne zu Fuß. Ich war fünf Monate lang für Dreharbeiten hier und konnte es einfach nicht ertragen in L.A. wieder ins Auto steigen zu müssen, um irgendwo hinzukommen“, erklärt sie.

„Als ich BEKANNTER wurde, wurde mir klar gesagt: ,NIEMAND darf wissen, dass du lesbisch bist.‘ Ich wurde gezwungen, KLEIDER und hohe Schuhe zu tragen“

T-Shirt von Jason Wu Grey. Hose von Akris. Uhr von Jaeger-LeCoultre.

Frisch und ohne Make-up sieht Page kaum älter aus als damals, als sie Juno in dem gleichnamigen Komödien-Drama porträtierte. Der unabhängige Film über einen gwitzten, schwangeren Teenager brachte ihr mit gerade einmal 20 Jahren eine Oscar-Nominierung ein. Sie schien unempfindlich gegenüber rollenspezifischer Typisierung in den Jahren, in denen sie in Komödien wie Roller Girl – Manchmal ist die schiefe Bahn der richtige Weg, Dramen wie To Rome with Love und Blockbustern wie Inception und X-Men zu sehen war. Für ihr neuestes Projekt kehrt sie zum Superhelden-Genre zurück. The Umbrella Academy ist eine 10-teilige Netflix-Serie, die auf dem gleichnamigen grafischen Roman basiert. Page spielt darin Vanya, beziehungsweise „Nummer Sieben“, in einer Familie von sieben Adoptivkindern, die von einem wohlhabenden, aber mysteriösen Wissenschaftler und Unternehmer aufgezogen werden. Und es scheint, als besäßen alle Kinder magische Kräfte, außer ihr.

„Sie erlebte in der Kindheit Missbrauch, genau wie alle anderen“, nickt Page. „Aber zusätzlich dazu wurde sie von den anderen getrennt und ständig daran erinnert, wertlos zu sein. Als Erwachsene ist es schwer für sie, intime Beziehungen einzugehen. Sie kämpft mit Angstzuständen und Depressionen. Ich bin mir sicher, dass es viele Menschen gibt, vor allem junge Frauen, die sich mit ihr identifizieren können.“

Blazer und Hose von Helmut Lang. Hemd von Alex Mill. Sneakers von Veja.

„Ich bin so DANKBAR, Teil dieses repräsentativen Projekts zu sein. Aber es kratzt nur an der OBERFLÄCHE. Leute verstehen noch nicht richtig, womit sich die LGBTQ-Community auseinandersetzen muss“

Seit ihrer Jugend hat Page nicht mehr für das Fernsehen gearbeitet, doch jetzt stehen ihr nicht nur eine, sondern gleich zwei Sendungen bevor. Bei der zweiten handelt es sich ebenfalls um eine Produktion von Netflix, die den Titel Tales of the City trägt. Die mit Spannung erwartete Miniserie ist eine Fortsetzung der 90er-Show und basiert auf den Büchern von Armistead Maupin, der als Wegweiser in seiner Darstellung von schwulen und transsexuellen Charakteren gilt. Laura Linney und Olympia Dukakis schlüpfen beide 25 Jahre nach der Erstausstrahlung wieder in ihre Rollen. Linney (die auch Executive Producer ist) mimt die naive Mary Ann Singleton aus Ohio, die spontan nach San Francisco zieht; Dukakis stellt die transsexuelle Anna Madrigal dar, die ihre Vermieterin ist und nebenbei Marihuana anpflanzt, und Page spielt Mary Anns Adoptivtochter Shawna.

„Ich bin so dankbar, Teil dieses repräsentativen Projekts zu sein“, sagt Page. „Aber es kratzt nur an der Oberfläche. Das Thema wird noch viel zu wenig behandelt. Und was dabei herauskommt, ist die Aufrechterhaltung negativer Stereotypen. Leute können also immer noch nicht richtig verstehen, mit was sich die LGBTQ-Community auseinandersetzen muss.“ Die Besetzung umfasst eine Reihe von transsexuellen und nicht-binären Mitgliedern, darunter die Schauspielerin Daniela Vega und Regisseurin Silas Howard, die sowohl bei der Serie Pose als auch in Transparent Regie geführt hat. „Es war die integrativste Produktion, bei der ich je mitgewirkt habe“, sagt Page. „Es ist einfach anders, und das merkt man. Ich will bei jeder Produktion daran arbeiten, um es stetig besser zu machen.“

T-Shirt von Carcel. Hose von Theory. Sneakers von Common Projects. Uhr von Jaeger-LeCoultre.
T-Shirt von Jason Wu Grey.

„Ich hatte mich gerade zum ersten Mal in eine Frau VERLIEBT und schon schrieben Leute ARTIKEL mit Überschriften wie ,Ist Ellen Page lesbisch?‘ Das war verheerend für meine MENTALE Gesundheit“

Maupin wurde für seinen Umgang mit LGBTQ-Themen – wie die wahrheitsgetreue Darstellung der AIDS-Epidemie – zelebriert. Er musste aber auch Kritik einstecken, beispielsweise für das Outing des verstorbenen Rock Hudson, über dessen Affäre Maupin in seinen Memoiren schrieb. Ist es jemals akzeptable, frage ich Page, jemand anderen zu outen? Sie nimmt sich Zeit, wie sie es häufig macht, um ihre Antwort wohlüberlegt zu formulieren. „Für mich nicht“, sagt sie. „Ich denke, bei Politikern kann man eine Ausnahme machen, sofern diese aktiv an destruktiven und gefährlichen politischen Angelegenheiten Teil haben. In anderen Situationen finde ich es nicht in Ordnung.“

Sie spricht aus Erfahrung. „Ich war 20 Jahre alt und hatte mich zum ersten Mal in eine Frau verliebt. Damals musste ich mich selbst erst noch damit auseinandersetzen, da schrieben die Leute schon Artikel mit Überschriften wie „Ellen Pages Wette mit der Sexualität“. Es gab ein Boulevardmagazin, das ich an der Kasse einer Tankstelle entdeckte. Darauf zu sehen war ein Bild von mir mit der Frage: „Ist Ellen Page lesbisch?““ Sie erzählt die erschreckende Geschichte mit ruhiger Stimmt, aber ihre Hände zittern. „Das war für meine mentale Gesundheit sehr verheerend.“

Schließlich gewann die damals 26-Jährige weltweite Bewunderung, als sie sich am Valentinstag 2014 bei einer Konferenz für Berater der LGBT-Jugend in Las Vegas outete. „Ich bin es leid, mich zu verstecken. Ich bin es leid, absichtlich zu lügen“, sagte sie. „Ich habe jahrelang gelitten, weil ich Angst vor meinem Outing hatte.“

„Aber ich hatte, und habe, ein Gefühl von Verantwortungsbewusstsein“, sagt sie heute. „Ich will helfen, wo ich kann, und möchte homosexuelle Inhalte produzieren.“ Im Jahr 2015 spielte Page an der Seite von Julianne Moore in dem brillanten Film Freeheld – Jede Liebe ist gleich. Darin geht es um die wahre Geschichte einer Frau aus New Jersey, die sich für die Übertragung ihrer polizeilichen Rente an ihre Lebensgefährtin einsetzte. Außerdem produzierte sie zwei Staffeln der Serie Gaycation des Fernsehsenders Viceland, welche LGBT-Gemeinschaften auf der ganzen Welt erkundete.

Blazer von Stella McCartney. Hemd von Joseph.
Blazer, Hemd und Hose von Saint Laurent. Ring: Ellens eigener.

„In meinen frühen Zwanzigern glaubte ich nicht an die MÖGLICHKEIT, mich zu outen. Im Laufe der Zeit öffneten sich die HERZEN der Menschen. Veränderungen finden dennoch nicht schnell genug statt, aber die Dinge haben sich GEBESSERT“

Blazer von Tibi. Hemd von Alex Mill.

Page hat ihre Stimme gefunden, und es ist eindeutig, dass sie sich ihre Entschlossenheit zunutze macht. Ein paar Tage nach unserem Treffen, hat Page einen Auftritt in The Late Show with Stephen Colbert, in der sie eine beeindruckende Rede über Hassverbrechen hält, dessen Schuld sie der Trump-Regierung und insbesondere Vizepräsident Mike Pence zuschreibt. „Wenn du in einer Machtposition bist und Menschen hasst [], was glaubst du wird passieren? Kinder werden missbraucht, sie begehen Selbstmord und Menschen werden auf der Straße geschlagen“, sagt sie. Zieht sie es jemals in Erwägung, wieder in ihr Heimatland Kanada zurückzukehren, anstatt in den USA zu bleiben? „Kanada hat auch viele Probleme“, antwortet sie schulterzuckend. „Ich bin in Nova Scotia aufgewachsen und dort gibt es rassistische Gruppen von Weißen. Und der Umgang mit der indigenen Bevölkerung ist immer noch absolut schrecklich.“

Sich in Hollywood zu outen ist heute „ganz anders“ als noch vor zehn Jahren, sagt sie. „Ich erinnere mich, wie ich in meinen frühen Zwanzigern nicht einmal an die Möglichkeit glaubte, mich zu outen. Aber im Laufe der Zeit nahm die Repräsentation zu, was die Herzen und den Verstand der Menschen beeinflusste. Veränderungen fanden und finden jedoch nach wie vor nicht schnell genug statt. Das gilt besonders für Minderheiten in der Gemeinschaft. Doch die Dinge haben sich gebessert.“

Blazer und Hose von Tibi. Hemd von Alex Mill. Sneakers von Common Projects.

Die Mission der Schauspielerin in Gaycation ist es, ebendiese Orte und Bereiche zu erkunden. „Ich wollte für Gaycation eigentlich eine Sportepisode machen, in der wir Profisportler interviewt hätten. Mir wurde aber klar, dass es momentan keinen einzigen männlichen Athleten gibt, der sich öffentlich zu seiner Homosexualität bekannt hat. Eine Ausnahme ist die MLS-Fußballliga [die US-Männerliga, in der zwei Spieler öffentlich schwul sind]. Wir müssten ihre Identität verbergen. Man würde sich also etwas anschauen, wo ein Mann sein Gesicht verbirgt, weil er homosexuell ist und in einer Sportmannschaft spielt. Und das im Jahr 2019.“

Vor etwas mehr als einem Jahr heiratete Page ihre kanadische Kollegin Portner. Sie strahlt, wann immer man ihre Frau zur Sprache bringt. „Ich bin so verliebt“, seufzt sie träumerisch. „Ich bin gerne verheiratet. Wenn ich mit dem Hund spazieren gehe, unterhalte ich mich oft mit anderen. Dann erzähle ich auch von meiner Frau und zeige Bilder auf Instagram. So jemand bin ich“, grinst sie. Tatsächlich hat sich das Paar über Instagram kennengelernt. Portner tanzte für eine Band, der Page folgt, und die ein Video davon geteilt hatten. „Ich dachte: ‚Wow, wer ist das? Sie ist unglaublich!‘“ Sie begannen sich Nachrichten zu schicken, „und dann trafen wir uns, redeten stundenlang und das war es dann einfach.“

„Ich bin so verliebt. Ich bin gerne VERHEIRATET. Wenn ich mit meinem Hund spazieren gehe, erzähle ich Leuten von meiner FRAU und zeige ihnen Bilder auf Instagram. So jemand bin ICH jetzt“

Blazer von Max Mara. Hemd von Givenchy. Ring: Ellens eigener.

Dachte sie schon immer, dass sie einmal heiraten würde, frage ich. „Ja, ich bin eine Romantikerin und habe oft darüber nachgedacht, welchen gemeinsamen Song wir haben würden, solche Sachen eben.“ Der große Tag war im Übrigen aber eher klein und äußerst privat. „Es war die magischste Nacht meines Lebens“, lächelt sie. Das Paar hat „über Adoption gesprochen, und wir können es uns wirklich gut vorstellen.“ Sie und Portner haben kürzlich an einem Video für die Komponistin Julianna Barwick zusammengearbeitet. „Wir schmieden immer Pläne, mehr zusammenzuarbeiten“, lächelt sie. Ein weiteres Zeichen ihrer Zufriedenheit ist auch, dass Page sogar selbst zu tanzen begonnen hat – und das nachdem sie jahrelang nur an der Seite stand. „Ich habe mich immer sehr unwohl dabei gefühlt“, sagt sie. „Es klingt total simpel, aber je wohler ich mich in meiner eigenen Haut fühlte, desto eher ging ich auf die Tanzfläche und hatte einfach Spaß. Jetzt bin ich diejenige, die ohne Hemmungen auch als Erste tanzt.“

The Umbrella Academy wird jetzt auf Netflix ausgestrahlt

Hemd von Bottega Veneta. Hose von AlexaChung. Socken von Falke. Sneakers von Veja.

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