Incredible Women

Cameron Russell schreibt einen Brief an die Modebranche

Incredible Women

Nach den Vorwürfen gegen Harvey Weinstein im Oktober letzten Jahres nahm das 31-jährige Model Cameron Russell sexuelle Belästigung in der Modebranche ins Visier und ermutigte andere Models dazu, ihre Erfahrungen mit Missbrauch auf Instagram unter dem Hashtag #MyJobShouldNotIncludeAbuse zu teilen.

Als führende Stimme der Model Mafia, einer Gemeinschaft an über 400 Models, die sich für einen Wandel in der Modebranche einsetzen, veröffentlichte die Absolventin der Columbia University viele dieser Geschichten auf ihrem Instagram-Account, nachdem sie von Models (einige davon im Teenager-Alter), die anonym bleiben wollten, angesprochen wurde.

Dank ihres Instagram-Profils, das inzwischen zum Attest des weitverbreiteten Missbrauchs in der Modewelt geworden ist, riefen Luxuskonzerne LVMH und Kering kurzerhand Chartas ins Leben, die das Wohlergehen von Models gewährleisten sollen.

In einem exklusiven Brief für PORTER spricht sich Russell für mehr Verantwortungsbewusstsein in der Modebranche aus.

Liebe Anhänger der Mode,

seitdem ich anfing, als Model zu arbeiten, war das höchste Lob stets: „Sie würde alles tun.“

Vergangenen November habe ich leider verstanden, was dies im schlimmsten Fall bedeuten kann. Ich veröffentlichte eine anonyme Anekdote über sexuelle Belästigung auf Instagram, die mir eine Freundin und ehemalige Modelkollegin geschickt hatte. Binnen weniger Stunden füllte sich mein Posteingang mit hunderten weiterer solcher Geschichten. Zusammen mit Dutzenden anderen Frauen, die in der Branche arbeiten, verbrachte ich die nächsten 48 Stunden damit, diese zu veröffentlichen. Es war eine Momentaufnahme des systemischen Missbrauchs, der dann stattfindet, wenn der Satz „Sie würde alles tun“ Models das Gefühl vermittelt, nicht nein sagen zu können.

„Sie wird alles tun“ ist eine Erwartungshaltung am Set. Es bedarf wenig Recherche, um zu verstehen, dass es sich dabei nicht nur um ein Motto der Modewelt handelt, sondern vielmehr um eine Ideologie, die von einer Branche erzeugt wurde, die auf Rassismus und Sexismus basiert. In der Bekleidungsindustrie arbeiten ca. 80 % Frauen, die meisten davon dunkelhäutig und in niedrigen Positionen. Egal, über welche Stadt wir sprechen – ob New York, Paris, Mailand, Dhaka oder Phnom Penh – die Mehrheit dieser Frauen bekommen kein anständiges Gehalt. „Sie wird alles tun“ ergibt sich häufig, weil sie keine andere Wahl hat, zumindest dann nicht, wenn sie auf den Job angewiesen ist. In der formellen Wirtschaft arbeitet heute schätzungsweise jede siebte Frau in der Modeindustrie.

Dies ist kein #MeToo-Moment. Frauen, vor allem jene, die ethnischen Minderheiten angehören, waren sich schon immer den gewalttätigen Folgen des Patriarchats bewusst. Dunkelhäutige Frauen sich haben jahrhundertelang der Unterdrückung widersetzt und Wege gefunden, sich über die wirtschaftlichen und politischen Systeme, die auf ihrer Unterdrückung beruhen, hinwegzusetzen. Ohne zu verstehen, wie sich die Fehler am eigenen Arbeitsplatz als Puzzleteile ins Gesamtbild integrieren, verurteilen wir uns selbst dazu, diese brutalen Traditionen fortzusetzen. Wir beginnen uns erst dann zu entwickeln, wenn wir den Teil des Systems, den wir persönlich beeinflussen können, ändern. „Sie wird alles tun“ müssen wir loswerden und uns stattdessen dazu verpflichten, Würde zu bewahren. Wir müssen die Erfahrungen und Leistungen derer anerkennen, die sich für Veränderung einsetzen, um uns unabhängig von Geschlecht, Rasse, Gesellschaftsklasse, Grenzen und Unterschieden stark zu machen.

Es ist nicht immer leicht, mich mit diesem Thema zu befassen, da ich mir bewusst bin, dass auch ich von meiner Teilnahme in vielerlei Hinsicht profitiert habe. Außerdem kenne ich die kreativen, engagierten und fürsorglichen Menschen, die für Veränderung kämpfen. Anstatt wegzuschauen, rufe ich mir ins Bewusstsein, dass mich diese Herausforderungen entweder zur Verzweiflung bringen oder mich dazu motivieren können, um mich für jene Menschen einzusetzen, die dazu bereit sind, sich für eine bessere Zukunft zu engagieren.

CAMERON

Die in diesem Artikel dargestellten Personen stehen nicht in Verbindung mit NET-A-PORTER und unterstützen weder die Inhalte noch die gezeigten Produkte.