Coverstory

Der Aufstieg

mit

Awkwafina

Awkwafina Coverstory und Interview

Rapperin und Schauspielerin AWKWAFINA ist die Krone als Königin des Jahres 2018 sicher. Der Star aus Ocean’s 8 und Crazy Rich spricht mit JENNIFER DICKINSON über Rassismus, Repräsentation und das Beschreiten neuer Wege

Foto Carlota GuerreroStyling Tracy Taylor
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Wenn Prominente so wie wir wären, wären sie alle Nora Lum. Die aufregende Achterbahnfahrt, die die Schauspielerin 2018 erlebte, neigt sich langsam dem Ende zu. So schnell hatte Lum nicht mit dem Hoch gerechnet und ihre Stimmung schwankt nach dem Erfolg von Ocean’s 8 zwischen Überwältigung und Besorgnis darüber, dass sie dieses Glücksgefühl kein zweites Mal erleben wird. In den letzten 12 Monaten war die 30-Jährige in drei neuen Filmen zu sehen, darunter Ocean’s 8 und Crazy Rich. Beide wurden mit Spannung erwartet. Fernab der Kameras ist Nora, die den Künstlernamen Awkwafina trägt, aber ganz sie selbst. Auch hat sie ihr zweites Album In Fina We Trust veröffentlicht und wurde die zweite Frau asiatischer Herkunft, die die beliebte US-Comedyshow Saturday Night Live moderierte.

Ihr Karriereweg ist einzigartig, auch wenn er einige typische Elemente enthält: ein Faible für Entertainment schon als Kind sowie der Besuch der LaGuardia-Künstlerschule in New York. Lum ist in Queens als Tochter eines chinesisch-amerikanischen Vaters und einer südkoreanischen Mutter geboren und aufgewachsen. Die Rapperin und Schauspielerin führt die Entwicklung ihres Charakters auf den Tod ihrer Mutter zurück. Damals war sie vier Jahre alt. „Wenn ich zurückblicke, hängt meine komödiantische Sensibilität definitiv mit diesem traumatischen Ereignis zusammen“, sagt sie mit einem gewissen Unbehagen, das sowohl beim Sprechen über ihre Persönlichkeit als auch über ihre Kindheitserfahrungen zum Vorschein kommt. „Ich denke, ich habe meinen Sinn für Humor recht früh als Abwehrmechanismus entwickelt und eingesetzt, damit die Menschen um mich herum Freude statt Trauer empfinden. Ich denke, genau diese Sensibilität hat mich dazu bewegt, Performer zu werden.“

Glücklicherweise hatte die junge Nora mit ihrer Großmutter väterlicherseits – eine Frau die ihr „schon früh klarmachte, dass es in Ordnung ist, anders zu sein“ – einen Schutzengel. Sie war sieben Jahre alt, als „Grammafina“ ihre Erziehung übernahm. Ihr Vater arbeitete von früh bis spät und obwohl das Geld knapp war, gab es viel zu lachen. „Meine Oma förderte meinen Humor, weil sie es liebte, dass ich frech war. Kein Witz war zu gewagt und ich kam nie in Schwierigkeiten. Meine Scherze konnten vulgär sein, aber sie mochte sie alle.“

„Ich denke, ich habe meinen Sinn für Humor recht früh als ABWEHRMECHANISMUS entwickelt und eingesetzt, damit die Menschen um mich herum FREUDE statt Trauer empfinden. Genau das hat mich dazu bewegt, PERFORMER zu werden“

Bild oben: Mantel von Off-White. Boots von Aeydē. Dieses Bild: Blazer von Hillier Bartley.

Der Künstlername Awkwafina entstand während Lums Journalismus-Studiums. Sie sagt, die Idee sei zum Teil aus ihrem Kurs „Women’s Studies“ geboren. „Intersektionaler Rassismus, institutioneller Rassismus und die Probleme von Transgender-Menschen gaben mir den Mut und die Erkenntnis, dass sich viele Frauen ihrer eigenen Macht nicht bewusst sind.“ Ihre Musik schockierte von Anfang an. Die Songs, die sie produzierte und auf YouTube veröffentlichte, stehen ihrer Meinung nach für „das Hollywood Asiens, weil es keinen Wärter gibt.“ Sie waren nie als feministische Hymnen gedacht. Stattdessen spiegelten sie eine Frau wider, die keine Angst davor hatte, ihren eigenen Weg zu gehen und Aufsehen zu erregen. Die Reaktionen ihrer Familie waren gemischt. „Mein Vater ist durchgedreht. Aber meine Großmutter? Niemals. Sie kaufte mir einen DJ-Controller und ein Mikrofon.“

Lum schrieb Songs in 20 Minuten, überzeugte Gast-VIPs zum Auftritt in ihrer YouTube-Comedyshow und absolvierte tagsüber Praktika bei Medienunternehmen. Im Jahr 2012 löste einer dieser hastig komponierten Songs mit dem Titel My Vag – eine verspätete Antwort auf Mickey Avalons My Dick – auf der Plattform einen Dominoeffekt aus. Heute hat das Video, in dem Lum eine Reihe bizarrer Objekte aus einer Vagina entfernt, vier Millionen Aufrufe auf YouTube. Dennoch waren ihre Projekte etwas bruchstückartig: Da gab es das Buch Awkwafinas NYC, das Soloalbum Yellow Ranger im Jahr 2014 und Auftritte im Fernsehen. Auch führte ihr Erfolg auf YouTube dazu, dass sie von ihrem Job als Assistentin bei einem Verlag gefeuert wurde. Bei ihrem Vater kam das nicht gut an. „Er war entsetzt – nicht über den Song, aber darüber, dass ich diesen Karriereschritt wagte. Er wollte, dass ich Fluglotsin werde, da sie das beste Einstiegsgehalt haben.“ Seine Meinung änderte sich. „Er wollte das Beste für mich und glaubte nicht daran, dass aus Awkwafina jemals etwas werden würde“, erklärt sie. Hat sie damals schon an ihren Erfolg geglaubt? „Überhaupt nicht, nein. Aber ich wusste, dass ich es versuchen muss. Ansonsten würde ich im Alter denken: ‚Was wäre wenn?‘“

Blazer und Hose von Petar Petrov.

„Ich glaubte nicht daran, dass aus Awkwafina JEMALS etwas werden würde. Aber ich wusste, dass ich es VERSUCHEN muss. Ansonsten würde ich im ALTER denken: ‚Was wäre wenn?‘“

Lum ist es heute gewohnt, Leuten den Unterschied zwischen Nora und Awkwafina zu erklären. Er besteht darin, dass es sich bei der Kunstfigur um eine grenzenlose, unmissverständliche und unverblümte Version ihrer selbst handelt. Die Rolle erlaubt es ihr, Dinge zu tun, vor denen Nora zurückschrecken würde. Denken Sie nur an ihren Auftritt bei Saturday Night Live. „Man ist live im Fernsehen und wird von unzähligen Zuschauern gesehen, darunter Freunde und Familienmitglieder. Nora würde sich sofort umdrehen und gehen, während Awkwafina auf die Bühne tritt und ihr Ding durchzieht.“

Man kann sich nur schwer vorstellen, wie eine Frau, die nach dem gestrigen Fotoshooting peinlich berührt war, glücklich im Mittelpunkt einer vielgepriesenen TV-Sendung steht oder Texte über die Macht ihrer Genitalien rappt. Awkwafina tut das – und noch mehr – mit einer erstaunlich liebenswerten Souveränität. Doch auch ihr mutiges Alter Ego war bei dem Auftritt in Saturday Night Live emotional. Während der Sendung erklärt sie, dass sie mit 11 Jahren vor dem Studio der Show stand. Damals moderierte Lucy Liu als erste asiatisch-amerikanische Frau. Schon damals war sie sich darüber im Klaren, wie einschlagend dieser Moment war. „Es hat mir so viel bedeutet“, seufzt Lum. „Ich weinte, als sie sagte, dass sie die Show als erste Asiatin moderierte. Die Zweite zu sein ist einfach nur unglaublich!“

Pullover und Rock von Fendi. Sandalen von Prada.

Noch bahnbrechender war in diesem Sommer jedoch der Kinohit Crazy Rich. Seit Töchter des Himmels (1993) war es der erste Film mit überwiegend asiatischer Besetzung. Entscheidend war, dass Führungskräfte wie Regisseur Jon M. Chu dafür auf einen Online-Megadeal mit Netflix verzichteten, weil sie beweisen wollten, dass die Zuschauer für dieses Projekt auch an der Abendkasse erscheinen würden. Sie hatten recht: Crazy Rich ist die erfolgreichste Romantikkomödie der letzten 10 Jahre mit einem breit gefächerten Publikum aus asiatischen, kaukasischen, spanischen und afroamerikanischen Zuschauern. Die universelle Geschichte lässt sich mühelos auf den asiatischen Raum übertragen, der sich bis zuletzt auf sein weißes Publikum konzentrierte. „In der asiatisch-amerikanischen Community sagen wir jedes Jahr: ‚Oh, in diesem Jahr werden wir mehr Asiaten sehen‘, aber es passiert nie wirklich“, erklärt Lum, die in jeder Szene als Peik Lin Goh, die beste Freundin von Rachel Chu (Constance Wu) die Show stahl. „Ich denke jedoch, dieses Jahr ist es passiert“, lächelt sie.

„In der asiatisch-amerikanischen Community sagen wir JEDES Jahr: ‚Oh, in diesem Jahr werden wir mehr Asiaten sehen‘, aber es passiert NIE wirklich. Ich denke jedoch, dieses Jahr ist es PASSIERT“

Da Lum vergleichsweise neu in Hollywood ist, musste sie sich bis jetzt recht wenig mit den Demütigungen auseinandersetzen, die viele asiatisch-amerikanische Schauspieler(innen) über sich ergehen lassen mussten. Die Rollen, die ihr angeboten werden, haben Tiefe und entsprechen keinen Stereotypen. Sie würde sie ablehnen, wenn sie es täten. „Keiner meiner Filme hat das Thema angeschnitten. Es wurde nicht angesprochen“, sagt sie. Vertraut sei ihr aber die Frage, ob sie sich in ihrem Heimatland fremd fühle. „Ich glaube, als Erwachsener mit asiatisch-amerikanischer Herkunft fragt man sich stets, wo man hingehört.“ Schon die Bezeichnung ist eine Beleidigung. „Asiatisch-amerikanisch ist so ein vager Begriff, der so viele diverse Länder mit einbezieht. Das Einzige, was wir alle gemeinsam haben ist die Diskriminierung. Jeder von uns kennt die abwertenden Blicke in der Grundschule. Jeder von uns wurde schon einmal von Autofahrern mit rassistischen Bemerkungen angegangen. Wir haben es alle erlebt und fühlen uns in solchen Momenten alle etwas weniger amerikanisch.“

Man merkt, dass sich Lum im Interessenkonflikt mit Hollywoods aktueller Widerrufskultur befindet – eine Angst, die auf der Befürchtung einer Absage beruht, wenn man das Falsche sagt oder die falsche Person für eine Show anstellt. „Wenn man heute das gleiche sagen oder tun würde wie 2012 wäre das Karrieresuizid“, sagt sie. „Aber sollte man aus Angst handeln? Oder sollte man einfach richtig handeln? Es passieren noch zu viele schmutzige Dinge in der Branche. Ich schätze, manchmal muss man eins auf den Deckel bekommen, um seine Lektion zu lernen.“

In der Vergangenheit bestätigte die Schauspielerin mehrmals, dass sie nie eine Rolle annehmen würde, wenn diese einen stereotypischen Akzent erfordere. „Ich würde es nie tun. Man ist schließlich Verantwortungsträger. Fragen Sie mal eine weiße Person: ‚Fühlen Sie eine Verantwortung gegenüber Ihren weißen Mitmenschen?‘ Das würde niemals zur Debatte stehen. Was mich betrifft, fühle ich ein gewisses Pflichtgefühl meiner Community gegenüber. Auf gewisse Weise vertrete ich sie, weil so wenige von uns im Rampenlicht stehen. In der Zeit vor Crazy Rich hatten viele asiatisch-amerikanische Schauspieler(innen) kein Mitspracherecht, wenn es um die Rollen ging, die ihnen angeboten wurden. Wenn man ,nein‘ sagte, war das an sich schon ein Privileg.“

Mantel von Sonia Rykiel. Kleid von Orseund Iris.
Kleid von Gabriela Hearst. Sandalen von Christian Louboutin.
Jacke und Hose von Altuzarra.

„Auf gewisse Weise VERTRETE ich [meine Community], weil so wenige von uns im Rampenlicht stehen. Wenn man also ,NEIN‘ [zu einer mit Stereotypen beladenen Rolle] sagte, war das an sich schon ein PRIVILEG“

Gibt es etwas, auf das sie sich gegen Ende des Jahres freut? Hoffentlich hören die Leute auf, ihr zu sagen, dass es das beste Jahr ihres Lebens war und das Beste, was ihr jemals passieren wird. „Es war verrückt“, stimmt sie zu und schüttelt ungläubig den Kopf. „Selbst die Jahre, in denen ich nur 10.000 Dollar verdiente, waren die wohl besten Jahre meines Lebens.“ Auf welchen Moment ist sie 2018 ganz besonders stolz? Anders als erwartet, sagt sie: „Als ich nach My Vag von meinem Job gekündigt wurde, schämte ich mich und kam lange Zeit einfach nicht darüber hinweg. Vor Kurzem schrieb mir mein alter Chef eine E-Mail und gratulierte mir. Das half mir dabei, mit dem Vorfall abzuschließen.“

Auch Lums nächste Filmrolle widmet sich der chinesischen Kultur. Das Drehbuch handelt von einer Familie, die eine medizinische Diagnose vor ihrer Großmutter verbirgt, weil sie glauben, dass sich die tödliche Prophezeiung erfüllt, wenn man sie ausspricht. Sie gibt zu, dass sie sich aufgrund ihrer persönlichen Verbundenheit mit ihrer Großmutter davon angezogen fühlte und es fiel ihr leicht, während der Dreharbeiten zu weinen. Nie zuvor fühlte sie sich mehr wie eine echte Schauspielerin, auch wenn sie noch nicht ganz am Ziel angekommen ist. Obwohl ihre Performance als eine der besten diesen Jahres gehandelt wird, ist Lums Bescheidenheit wohl darauf zurückzuführen, dass sie noch nicht so recht glauben kann, dass sie ihre Traumkarriere verfolgen darf. „Ich rechne immer damit, dass es morgen vorbei ist“, verrät sie. „Ich erwarte immer, dass sich mein verdientes Geld, was nicht viel ist, in Luft auflöst und auf Buzzfeed ein Artikel mit dem Titel Ich war einmal Awkwafina erscheinen wird. Doch wenn das passieren sollte, werde ich nicht traurig sein. Ich durfte dieses Leben leben und das ist ein Privileg.“

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