Coverstory

Engel auf Erden

mit

Adesuwa Aighewi

Als Wunderkind sicherte sie sich ein Nasa-Praktikum, heute nutzt ADESUWA AIGHEWI ihre Stimme als Model und Regisseurin, um sich für soziale Gerechtigkeit stark zu machen. Mit SARAH BAILEY spricht sie über ihre Leidenschaft für afrikanisches Kunsthandwerk, ihr enges Verhältnis zu Karl Lagerfeld und wie ihr verstorbener Bruder ihr Hoffnung gibt

Foto Philip MessmannStyling Helen Broadfoot
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Adesuwa Aighewi begrüßt mich mit einer Tasse Tee in ihrer Londoner Modelagentur. Sie trägt ein transparentes Top und ein Slipdress, Logo-Pumps von Balenciaga und einen gebundenen pinken Shearling-Mantel. Ihr lässiges Auftreten ist einer langen Partynacht geschuldet, erklärt sie. „Ich hatte einen freien Tag“, lacht Aighewi. „Ich dachte: Heute kann mir niemand etwas anhaben. Ich möchte einfach nur essen, tanzen und Spaß haben.“

Die meiste Zeit verbringt das Model in Harlem, doch wenn sie feiern geht, dann am liebsten mit ihrer Londoner Fashion-Clique. „Es ist wirklich schwierig, Freundschaften außerhalb der Branche zu schließen. Die Planung stellt sich als ziemlich kompliziert heraus, da sich alle meinen extrem unkonventionellen Terminkalender anpassen müssen.“

„Als ich für das COVER der thailändischen Vogue vor der Kamera stand, musste ich vor Freude WEINEN. Mir wurde bewusst, dass ich als ZWEITE dunkelhäutige Frau jemals das Cover zieren würde“

Ihre Anpassungsfähigkeit hat Aighewis Karriere im Model- und Filmgeschäft stets beflügelt, weshalb sie mittlerweile regelmäßig in Kampagnen und auf dem Laufsteg für renommierte Mode- und Beauty-Unternehmen wie Fendi, Chanel und Dior Haute Couture zu sehen ist. Im vergangenen Jahr feierte sie mit dem Kurzfilm Spring in Harlem ihr Debüt als Regisseurin. Darin debattiert eine Gruppe muslimischer Mädchen über ihre Beziehung zur traditionellen Hijab. „Ich wollte ihnen eine Stimme geben, sodass sich die Zuschauer besser mit ihnen identifizieren können. Es sind Mädchen, die ihren Kopf mit Stoff bedecken, nicht mehr und nicht weniger. Davor muss man keine Angst haben.“ Aighewi hat nigerianische, thailändische und chinesische Wurzeln und ist wie ihre Mutter Buddhistin. Den Sommer verbrachte sie in Afrika, um dort eine Doku-Reihe über die Kultur des Landes zu drehen: „Alleine schon wegen der unterschiedlichen Kulturen und Menschen, die hier leben und sich versammeln. Es geht darum, die Vielseitigkeit näher kennen kennenzulernen.“

Obiges Bild: Blazer, Rock und Bluse von Fendi. Dieses Bild: Blazer und Hose von Gucci.
Jacke, Rock und Stiefel von Alexander McQueen.
Jacke und Hemd von Prada.

„Ich habe in einer SAUERSTOFFKAMMER geschlafen, weil ich ich so ERSCHÖPFT war… Die regenerierende Wirkung ist UNGLAUBLICH! Deswegen sehe ich so GLÜCKLICH aus“

Es war eine Herausforderung, anschließend wieder in den Trubel der Modewochen einzutauchen. „Ich bin aus Nigeria zurückgekommen und stand am nächsten Tag direkt für das Cover der thailändischen Vogue vor der Kamera und habe zum ersten Mal vor Freude über einen Job geweint. Mir wurde erst einen Tag vorher bewusst, dass ich als zweite dunkelhäutige Frau jemals das Cover zieren würde. Während des Fotoshootings dachte ich an meine Mutter, wie sie sagte: ‚Warum setzt Du nicht ein breiteres Lächeln auf?‘“, lacht sie. Seit diesem Meilenstein war sie innerhalb kürzester Zeit für Kampagnen in New York und London unterwegs und trotz der zahlreichen, hektischen Reisen sieht sie unfassbar frisch und munter aus. „Ich habe in einer Sauerstoffkammer übernachtet. Ich war erschöpft und schrieb daraufhin eine SMS an das Experten-Team, von dem ich eine intravenöse Sauerstoffbehandlung zur ganzheitlichen Erholung in Anspruch nehme. Basketball-Profi LeBron James soll auch auf diese Behandlung schwören. Die Wirkung ist unglaublich! Deswegen sehe ich so glücklich aus.

Aighewi wurde in Minnesota als Kind zweier Akademiker geboren, ihre chinesisch-thailändische Mutter und ihr afrikanischer Vater sind beiden Berufen in der Umweltwissenschaft nachgegangen. Bis zu ihrem 13. Lebensjahr verbrachte sie die meiste Zeit in Nigeria und berichtet von dieser idyllischen Zeit und den idealen Bedingungen für eine wohl behütete Kindheit. Sie wuchs als Wildfang, umgeben von Büchern und fernab der schillernden Modewelt auf. „Ich erinnere mich nicht, dass meine Mutter jemals zu mir sagte: ‚Du siehst hübsch aus.‘ Stattdessen fragte sie, welche Noten ich bekommen hatte.“ Früher hat sie es geliebt, auf Bäume zu klettern und nachts mit der Taschenlampe unter der Bettdecke Bücher zu lesen. Dennoch wurde ihre Kindheit von einer schrecklichen Tragödie überschattet: Ihr älterer Bruder Eswei starb, als Aighewi 13 Jahre alt war. Sie standen in sehr enger Beziehung zueinander. „Die Leute dachten, wir wären Zwillinge“, sagt sie. Beide wollten Ärzte werden, aber nach seinem Tod „hatte ich kein Interesse mehr an Medizin. Wir sagten uns, dass wir die Welt zusammen retten würden und konkurrierten miteinander. Nach dem Vorfall hatten sich meine Wünsche und Motivation plötzlich in Luft aufgelöst.“

Nach dem Tod von Eswei verließ die Familie Nigeria und zog in die Staaten. Der Umzug klingt nach einem dramatischen Erlebnis: Aighewi erinnert sich an befremdliche Momente, zum Beispiel als man sie während einer Zugfahrt fragte, ob ihr vier Jahre jüngerer Bruder ihr Sohn sei. Zudem hatten ihre Eltern anfangs große Schwierigkeiten, einen Job zu finden. „Mein Vater und meine Mutter hatten beide einen starken Akzent. Sie waren erstklassig ausgebildet, konnten aber keine Arbeit finden. Können Sie sich das vorstellen?“

Weste, Jeans und Stiefel von Chloé.
Bustier, Oberteil und Hose von Givenchy.

Ihre beachtliche Intelligenz ließ Aighewi als frühreif wirken. Nach der Schule begann sie ein Chemiestudium an der University of Maryland Eastern Shore und ergatterte ein begehrtes Praktikum bei der Nasa. „Ich war Gruppenleiterin zum Thema globale Erwärmung. „Mein Professor arbeitete an einem Projekt mit dem Ziel, die weltweite Algenpopulation zur Steigerung der CO2-Absorption zu erhöhen.“ Man spürt ihr das Leid an, wenn sie über ihre Vergangenheit spricht. Zu Beginn ihres Studiums wurde sie von einer Modelagentur entdeckt, brach ihre Ausbildung ab und brauch nach New York auf, um dort ihr Glück zu versuchen. Meine Mutter rief mich jeden Tag an und schimpfte: ‚Du hast die Schule nicht abgeschlossen, sowas macht man nicht‘“, erzählt die 27-Jährige. Im Endeffekt kehrte sie zurück, damit sie zeitgleich mit ihren Freunden den Abschluss machen konnte.

Hemd, Hose und Stiefel von Isabel Marant.

„An einem Tag in HARLEM wurde mir plötzlich bewusst, dass ich mit dem MODELN etwas BEWEGEN kann“

Wie eine Achterbahnfahrt erlebte sie ihre Anfänge in der Modewelt. Wenig glamouröse bis fragwürdige Casting-Möglichkeiten waren an der Tagesordnung, zwei Mal reiste sie nach der Schule in Maryland direkt zu einem Treffen mit einem Agenten von Victoria’s Secret. „Er sagte: ‚Sie warten darauf, dass du dir deine Brüste machen lässt‘, und ich dachte nur: ‚Junge, weder meine Mutter noch andere Frauen in meiner Familie haben große Brüste.‘“ Sie erwarteten eine Brustvergrößerung? „In der Modebranche passieren viele gruselige Dinge. Schlussendlich dachte ich, dass sich das Problem mit einem Tattoo auf der Brust von selbst lösen würde.“ Ihre Idee setzte sie in die Tat um.

Erst später kam ihr der Gedanke, dass man die Modebranche als eine mächtige Plattform nutzen könnte. „Ich erinnere mich, wie mir in Harlem plötzlich bewusst wurde, dass ich mit dem Modeln etwas bewegen kann.“ Die gegenwärtige Offenheit der Fashion-Welt gegenüber Mädchen mit unterschiedlichen Hautfarben, Piercings und Tattoos hat Aighewi zum Aufstieg verholfen. Sie hat maßgeblich zum neuen Schönheitsideal einer sich verändernden Branche beigetragen. Insbesondere dunkelhäutige Models nahmen sich Alex Wek zum Vorbild. „Jedes mal, wenn ich sie sehe, möchte ich sie einfach nur umarmen“, sagt sie mit emotionalem Unterton. „Die Leute denken, Models haben immer jemanden, der sie motiviert und antriebt, doch in Wirklichkeit stehen wir ganz allein an der Front.“

„Mir war klar, dass KARL [Lagerfeld] mich nehmen würde. Er war sowas von COOL! Wie gerne hätte ich mehr ZEIT mit ihm verbracht“

Blazer und Bluse von Fendi.
Mantel und Schuhe von Balenciaga.

Aighewi sieht Karl Lagerfeld als großen Förderer ihrer Karriere. Er war es, der sie sowohl für Fendi als auch für Chanel engagierte. „Wissen Sie, was verrückt ist? Ich wusste, dass Karl mich nehmen würde. Er war ziemlich cool!“ Sie erinnert sich, damals viel Zeit in seiner Bibliothek verbracht zu haben. „Rauchend und lesend im Bademantel. Ich dachte, dass Gehirn dieses Mannes muss unglaublich sein.“ Kurz vor dem Tod des deutschen Modeschöpfers plante sie noch ein Filmprojekt mit ihm. „Ich wollte ihm ungewöhnliche Fragen stellen, wie zum Beispiel: Sind Sie glücklich? Warum mögen Sie Katzen? Karl sagte zu. Er erzählt mir, sein Patensohn wolle Regisseur werden und auch kommen. Das fand ich fantastisch. Eine Woche später erreichte mich die traurige Nachricht von seinem Tod. Er war super-cool. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit mit ihm verbringen können.“

„Ich möchte VERÄNDERUNG im GROßEN Stil bewirken und als die treibende KRAFT agieren“

Wie Karl ist Aighewi ein Mensch mit vielseitigem Wissen. Neben dem Modeln und Filmemachen schreibt sie gerade an ihrem eigenen Buch Akugbe (zu Deutsch: zusammen), inspiriert von ihrem verstorbenen Bruder. Die Illustrationen sind in Zusammenarbeit mit einer in Texas lebenden nigerianischen Anime-Künstlerin entstanden, auf die Aighewi über Instagram aufmerksam geworden ist. Noch ehrgeiziger bemüht sie sich um die Kooperation zwischen afrikanischen Kunsthandwerkern und Modedesignern der westlichen Welt. Gemeinsam kreieren sie unter dem Synonym Legacy Project trendgerechte Produkte für globale Stilikonen und Fashion-Fans. Noch in diesem Jahr soll die Initiative enthüllt werden. Vorab zeigt mir Aighewi erste Fotos auf dem Handy. Darauf zu sehen sind Teile von afrikanischen „Benin Bronzen“, aus denen Gürtelschnallen entstehen sowie Korallenperlen, die traditionell von afrikanischen Häuptlingen getragen und zu Metallic-Accessoires neu gefasst werden. „Ich will Veränderung im großen Stil bewirken“, grinst sie. Im Umkehrzug soll der Erlös den Kunsthandwerkern in Afrika zugutekommen und andere Designer zur Zusammenarbeit motivieren. „Was man investiert, kommt wieder. Es ist wie ein Kreislauf“, sagt Aighewi. „Ich agiere als die treibende Kraft.“

Sie ist sich der Ironie ihrer Geschichte bewusst. „Wenn mein Bruder nicht gestorben wäre, hätte ich nicht diesen Job. Derartige Ereignisse sind wirklich lebensverändernd. Man blickt der Realität anders entgegen. Entweder versinkt man im Kummer oder akzeptiert sein Schicksal und macht daraus das Beste“, sagt sie achselzuckend und mit einem Lächeln.

„Vor kurzem habe ich mich gefragt, was er von meinem Vorhaben halten würde. Er hatte Biss und war knallhart. Ich bin mir sicher, er wäre begeistert.“

Aighewi's Buch ist im Verlag Random House veröffentlicht.

Kleid von Saint Laurent.
Jumpsuit von Valentino.

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