This Is America
mit
America Ferrera

Von ihrer Karriere als Schauspielerin und Produzentin, die sie allen Widerständen zum Trotz vorangetrieben hat, bis hin zu ihrem aktivistischen und politischen Engagement, AMERICA FERRERA ist eine der wahren Revolutionärinnen Hollywoods. Sie spricht mit EVE BARLOW über ihre Leistungen und weshalb sie sich weigert, zu schweigen
Hollywoods Filmstudios sind nicht so, wie man sie sich vorstellen würde. Abgesehen von den Golfwagen und Sound-Bühnen ist die Atmosphäre wie in jedem anderen Firmenpark. Mitarbeiter treffen sich wie gewöhnlich zu Besprechungen und nehmen Anrufe überall entgegen. Die Wartungsarbeiter begutachten die Fläche und man sucht vergebens nach einem Singin’ in the Rain-Moment. Im vergangenen Jahr haben Hollywoods perfekte Bilder ihren Glanz verloren. Die Traumfabrik wurde weniger zu einer Flucht aus der realen Welt als vielmehr zu einer Darstellung für den Missbrauch und die Gefährdung von Frauen in verschiedenen Branchen. Vor einem Jahr nahm die #MeToo-Bewegung von hier aus ihren Lauf. Frauen sollen weiterhin in allen Bereichen der Arbeitswelt unsere Unterstützung erhalten.
America Ferrera kennt sich mit den Missständen und dem Widerstand aus. Es ist fast das Ende eines Freitags bei Universal und die 34-Jährige, die derzeit an einer neuen Staffel der Serie Superstore arbeitet (produziert von Ferreras Firma), packt zusammen. Sie scheint einen Kinderwagen mit ihrem vier Monate alten Sohn Sebastian zu schieben. Die Schauspielerin kam zehn Wochen nach der Geburt wieder zur Arbeit und hält das für Luxus. „Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie es für Frauen ist, die das nicht tun können“, sagt sie. Auf der Vorderseite ihres Oberteils steht geschrieben „Phenomenal Woman“, zu Deutsch „Phänomenale Frau“, was eine Art Untertreibung ist.
International ist sie als Hauptdarstellerin aus Alles Betty! bekannt, eine Show, die über vier Staffeln lief und für Latina-Frauen im Fernsehen den Durchbruch brachte. Abgesehen davon hat Ferrera ihr Leben damit verbracht, außergewöhnliche Leistungen zu erbringen. Unter anderem eröffnete sie den ersten Women’s March in Washington, D.C., gewann eine Auszeichnung für ihre Arbeit mit der LGBTQ-Gemeinschaft, war eine treibende Kraft der Time’s-Up-Bewegung, sprach über den Missbrauch, den sie als 9-Jährige erlitt und setzte sich öffentlich für die Einwanderungsrechte getrennter Familien ein. Außerdem veröffentlichte sie kürzlich ein Buch mit dem Titel American Like Me: Reflections on Life Between Cultures. Im Fokus der Publikation stehen Amerikaner mit Migrationshintergrund.
„Wenn wir zulassen, dass MUTIGE einen Rückschlag akzeptieren, dann heißt das für Millionen von Menschen weltweit, dass sich niemand für sie INTERESSIERT. Wir können nicht aufhören zu KÄMPFEN. Auch wenn es überwältigend sein kann“
Letzte Woche unterstützte Ferrera öffentlich Professor Ford, die Frau, die vermeintlich von Brett Kavanaugh, ein Kandidat für den Obersten Gerichtshof, sexuell missbraucht wurde. Mehr als 25 Jahre nachdem Anita Hill den Richterkandidaten Clarence Thomas wegen sexueller Belästigung beschuldigt hatte, ist das Geschrei der Frauen nach Gerechtigkeit in den mächtigen Hallen immer noch zu hören. Ferrera behauptet, dass es heute noch schlimmer ist. „Die Leute sind müde von den täglichen Angriffen auf unsere Werte, sodass es an Wichtigkeit verliert. Aber wir dürfen nicht vergessen, wie wichtig es ist“, sagt sie. „Ich könnte mit dem Schweigen nicht leben.“
Frauen haben nichts davon, wenn sie sich zu Wort melden. Das wissen wir. Ferrera glaubt, dass sich Ford gesträubt hat, etwas zu sagen, weil sie wusste, dass sie als Futter für die Politik dienen würde. „Wir definieren unsere Kultur jeden Tag. Wenn wir zulassen, dass Mutige einen Rückschlag akzeptieren, dann heißt das für Millionen von Menschen weltweit, dass sich niemand für sie interessiert. Wir können nicht aufhören zu kämpfen. Auch wenn es überwältigend sein kann.“
Als Jüngste von sechs Geschwistern wuchs Ferrera in Los Angeles auf. Ihre Eltern waren Einwanderer aus Honduras. Ihr Vater kehrte ins Heimatland zurück, nachdem sich ihre Eltern geschieden hatten. Ferrera wollte schon immer Schauspielerin werden und bekam ihre erste Filmrolle 2002 in Echte Frauen haben Kurven. Damals war sie noch in der Schule. Trotzdem ging sie anschließend an die USC (University of Southern California), wo sie im doppelten Hauptfach Theaterwissenschaft und internationale Beziehungen studierte. Dort lernte sie auch ihren Mann Ryan Piers Williams kennen. „Ich war das Mädchen, das von Filmset zu Filmset düste und Semesterarbeiten auf dem Boden am Flughafen schrieb“, sagt sie lachend.
Das erste Mal, als sie ihre Plattform öffentlich nutzte, war während der Präsidentschaftswahl im Jahr 2008. Während sie für Hillary Clinton warb, wurde sie nahezu besessen vom einem Problem, dass noch weitaus wichtiger war als die Kandidaten – die Minderheit von Dunkelhäutigen im Wahlkampf. „Wenn sich deine Eltern nicht engagiert haben, warum solltest du es tun? Wenn dich niemand nach deinem Einsatz fragt, was für einen Unterschied macht es dann? Wenn man uns alle Rechte entzieht, spielt es keine Rolle, wie viele von uns dabei sind“, erklärt sie. Die Arbeit vor Ort hat sie begeistert und gelehrt, weshalb sie sich schließlich mit Fragen zur Gesundheit und Umwelt sowie Einwanderungsthemen auseinandersetzte. Politik war für sie keine Theorie mehr. „Wenn ich mich hinsetze und Zeitung lese, muss ich mir die Leute vorstellen“, sagt sie. „Dabei zu sein gibt mir Energie.“
Ferrera recherchiert jene Probleme genauso wie ihre Rollen. Es ist ein Zusammenspiel. Die Rollen, die sie auswählt, werden nach ihrem Verständnis beurteilt. Sie ist ein Glückspilz, was ihre frühe berufliche Karriere angeht. Die Fernsehserien Echte Frauen haben Kurven und Alles Betty! waren ungewöhnliche Projekte, die ihr die Freiheit gaben, sich auszudrücken. „Ich bin, wer ich bin“, sagt sie. „Ich passe in keine Schublade, was Schauspielerinnen angeht. Als ich anfing, war meine bloße Anwesenheit eine Revolution, weil ich in dieser Branche nicht existieren sollte.“
In ihrer Jugend war Ferrera naiv, was Rassendiskriminierung und Sexismus betrifft. „Ich sagte mir: ‚Das ist Amerika! In Amerika kann jeder alles tun. Wen kümmert es, dass ich eine kleine, rundliche, imperfekte Latina bin? Amerika bevorzugt Außenseiter, und wer hart arbeitet, kann seine Träume verwirklichen.‘“ Als sie zu Castings ging und man ihr stereotypische, freche Rollen anbot, wurden ihr die Nachteile bewusst. Echte Frauen haben Kurven sicherte ihr den Durchbruch. „Ich dachte: ‚Ich bin beim Rennen dabei.‘ Und obwohl es unrealistisch war, erwartete ich weiterhin neue Chancen. Warum sollte ich das auch nicht tun? Der Traum, den ich hatte, war lächerlich. Meine Karriere ist eine Ausnahme.“
Alles Betty! war eine Fernsehserie, die niemals ausgestrahlt werden sollte, sagt Ferrera. „Wir machen keine Shows über hässliche, dunkelhäutige Frauen, die Biss haben. Im Anschluss gab es nur wenige Sendungen, die Latinas in den Mittelpunkt rückten. Derzeit liegt die Repräsentanz bei 7%, weshalb Ferrera sich nie davor gescheut hat, laut zu werden. „Ich bin Schauspielerin von Beruf“, sagt sie. „Es geht nicht um mich oder meine Herkunft, sondern darum, sich für die Welt, in der ich leben will, einzusetzen. Angst davor zu haben, was die Leute über mich denken, ist keine Option.“
„Nur wenige FRAUEN treffen in ihren Positionen wichtige Entscheidungen. Wir können nicht AKZEPTIEREN, dass es normal sein soll, dass Frauen in jedem Bereich weniger qualifiziert sind“
Am 21. Januar 2017 trugen Frauen auf der ganzen Welt rosa Hüte und marschierten gemeinsam mit handgemachten Schildern. America Ferrera war als erste Sprecherin des Tages im Zentrum des Geschehens in Washington, D.C. Bis 24 Stunden zuvor hatte sie davon noch keine Ahnung. „Ich habe mir keine Sorgen darum gemacht, dass meine Rede nicht perfekt ist“, sagt sie. „Es schien so eindeutig, was gesagt werden musste. Ich konnte es nicht erwarten, Millionen von Menschen, die so viel zu verlieren hatten, zu repräsentieren.“ Sie dachte an all ihre geliebten Mitmenschen, ihre muslimischen, lateinamerikanischen, schwarzen und LGBTQ-Freunde. „Keiner wusste, wie historisch der Marsch werden würde. Wir haben so viel an Gleichberechtigung und Würde verloren, weil sich das Land rückläufig entwickelt hat. Ich denke an diesen Tag zurück und weiß, dass wir nicht allein sind, denn die Leute werden kommen.“
So sehr uns die Frauenbewegung vereint hat, gibt es nach wie vor Schwierigkeiten im intersektionellen Feminismus; weiße Frauen, die die diversen Herausforderungen von Dunkelhäutigen nicht verstehen. Ferrera ist diesbezüglich diplomatisch. „Ich frage immer: ‚Wie können wir zusammen anders sein?‘ Es gibt keine einfachen Antworten.“ Für die Weiterentwicklung müssen schwierige Gespräche geführt werden. „Wir kannibalisieren unsere eigene Bewegung. Diejenigen, die sich rückläufig entwickeln wollen, ziehen ihr Ding durch, ohne sich davon abbringen zu lassen. Wir haben einen härteren Job, weil wir versuchen, eine Masse von Menschen zu bewegen, die von Natur aus anders ist.“
„Ich will nicht, dass MÄNNER in meinem Leben das Gefühl haben, dass es keinen Platz für sie gibt. Dieses Gefühl haben bereits viele FRAUEN. Männer müssen sich nicht genauso fühlen. Stattdessen können wir es BESSER machen“
Man fragt sich, ob Ferrera selbst für ein Amt kandidieren würde. Sie ist sich nicht sicher. Zunächst priorisiert sie eine gleichberechtigte Vertretung aller Parteien – nicht nur in der Politik. „Natürlich möchte ich eine Präsidentin sehen, aber das wird das Problem nicht lösen“, sagt sie. „Wir brauchen 50% Frauen in der Chefetage und 50% Frauen vor und hinter der Kamera. Wir müssen Frauen sehen, wenn wir uns die Technologiebranche und Wall Street anschauen. Nur wenige von ihnen treffen in ihren Positionen wichtige Entscheidungen. Wir können nicht akzeptieren, dass es normal sein soll, dass Frauen in jedem Bereich weniger qualifiziert sind. Man kann nicht alles über einen Kamm scheren.“
Als Ferrera schwanger war, dachten sie und ihre Freunde, sie bekäme ein Mädchen. „Ich dachte: ‚Oh, mein Gott, was mache ich nur mit einem Jungen?‘ Aber ich merkte schnell, was für eine unglaubliche Möglichkeit das war. Ich gehe die Dinge so an, als würde ich ein Mädchen erziehen, denn ich möchte, dass er seinen Wert erkennt.“ Einen Sohn zu haben, hat dazu geführt, dass sie Aussagen wie „Die Zukunft ist weiblich“ überdenkt. „Ich denke zweimal darüber nach, wie ich über Männer spreche. Ich will nicht, dass mein Sohn, mein Mann oder die Männer in meinem Leben das Gefühl haben, dass es keinen Platz für sie gibt. Dieses Gefühl haben bereits viele Frauen. Männer müssen sich nicht genauso fühlen. Stattdessen können wir es besser machen.“
Ferrera folgt dem Leitgedanken der Politikerin Kamala Harris: Wir müssen den Marathon nicht allein laufen, es kann ein Staffellauf sein. „Niemand schafft es alleine und niemand kann es die ganze Zeit tun“, sagt die Schauspielerin. „Deshalb gibt es so viele von uns. Wir sind da, wenn wir es können. Manchmal müssen wir passen und unser Leben leben, Luft holen und uns daran erinnern, was uns glücklich macht.“
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