Grenzenlos
mit
Aweng Chuol

Als selbsternannte Streberin, die bereits für Rihanna über den Laufsteg lief, in Beyoncés Black Is King mitspielte, Jura studiert und Hollywood im Visier hat, hat es sich AWENG CHUOL zur Aufgabe gemacht, ein Leben ohne Grenzen zu führen. Hier modelt sie die herausragenden Kollektionen der neuen Saison und spricht mit LIV LITTLE über ihre Erfahrungen mit mentaler Gesundheit, ihre Hoffnungen für die Zukunft und die Verwirklichung ihrer Träume
„Letzte Nacht habe ich meiner Stiefmutter erzählt, dass ich mich seit meiner Geburt wie eine Nomadin fühle“, berichtet Aweng Chuol. Das 22-jährige Model ruft aus dem Londoner Stadtteil Chelsea an, der Wahlheimat ihrer Ehefrau Lexy, obwohl sie nicht weiß, ob sie dort noch lange bleiben werden.
Chuol wurde in einem Flüchtlingslager in Kenya geboren, zog im Alter von sieben Jahren mit ihrer Familie nach Sydney und bis vor Kurzem lebte sie in New York. Allein in den vergangenen zwei Jahren bereiste sie im Rahmen ihres Jobs 60 verschiedene Länder und kann sich vorstellen, in Malawi oder Madagaskar zu leben, ohne jemals dort gewesen zu sein. Doch im Moment hat sie ihr Herz an New York verloren.
„Alle dort sind irgendwie jung und wenn man an die richtigen Orte geht, gibt es viele junge Leute“, sagt sie über das Gefühl, mit der dortigen Gemeinschaft verbunden zu sein. „Ich liebe Miss Lily’s [ein karibisches Restaurant] in SoHo. Ich gehe alleine zum Essen hin und lerne dort sechs neue Leute kennen.“
Gefragt nach ihrer Kindheit, sagt sie zurückhaltend: „Es war ein sehr typischer Haushalt“, nachdem sie erzählt, dass sie die Älteste von zwölf Geschwistern ist. „Ich wuchs in einer riesigen Familie auf, die Erstgeborene von zwölf Kindern. Meine Mutter ist jetzt 36, ich bin 22 und die jüngsten sind dreijährige Zwillinge.“ Die Familie ist eng verbunden und Chuol wurde von ihrer Mutter und ihrer Familiengemeinschaft aufgezogen (als sie Kenia verließen, blieb ihr Vater zurück, um im südsudanesischen Bürgerkrieg zu kämpfen, und starb 2013 an den Folgen einer Schussverletzung).
„Meine Familie liebt Kinder und auch viele meiner Freunde haben heute selbst um die sechs Kinder. Wir alle glaubten, sie [Chuols Mutter] würde aufhören, doch sie liebt Kinder. Sie liebt es, sie aufzuziehen und hat einfach immer weitergemacht – und zum Glück haben wir uns alle irgendwie gut entwickelt.“
„Ich habe das Gefühl, dass mir der STRESS des vergangenen Jahres KLAR gemacht hat, dass man NIE weiß, was als nächstes passieren wird“
Wobei „gut“ eine kleine Untertreibung ist, wenn man Chuols kometenhaften Aufstieg als Model bedenkt. Projekte mit Beyoncé und Rihanna nennt sie als zwei Highlights ihrer Karriere, auch wenn sie nicht ins Detail gehen darf. „Rihanna war einfach phänomenal. Beyoncé war großartig“, erzählt sie von ihren Erfahrungen ihres Debuts auf dem Laufsteg von Savage X Fenty 2018 in New York und ihrer Mitwirkung in Beyoncés aufsehenerregenden visuellen Albums Black is King letztes Jahr.
Auch wenn Chuols markantes Gesicht im Moment allgegenwärtig scheint, liegt ihr Fokus nicht nur darauf, das It-Girl der Stunde in der Modewelt zu sein. Sie studiert derzeit immer noch Rechtswissenschaften, spielt Klavier und befindet sich in der Schauspielausbildung, auch wenn sich ihre Mutter gewünscht hätte, sie wäre Nachrichtensprecherin geworden. „Als ich an der juristischen Fakultät aufgenommen wurde, war ich 17 Jahre alt. Ich erinnere mich, dass ich glaubte, es sei der Traum, den [sie] für mich hatte. Ich hätte Moderatorin werden können. Ich hätte das wirklich machen können. Und ich hätte es schneller geschafft und wäre nicht so gestresst, wie ich es jetzt während des Studiums bin.“
Sie beschreibt sich selbst als sehr ehrgeizig und so hat der Lockdown Chuol die Möglichkeit gegeben, ihre Ziele und Leidenschaften abseits des Modelns zu verfolgen. Sie hat viel Zeit damit verbracht, ihre Schauspielkünste zu entwickeln und sagt, sie würde ihr Debut gerne im Horror-Genre geben. Diese Zeit nennt sie ihre „egoistische Zeit“, doch andere würden es Selbstfürsorge oder sich selbst zur Priorität machen nennen.
„Ich habe meinen EIGENEN Rhythmus in den sozialen Medien. Ich glaube nicht, dass IRGENDJEMAND für eine andere Person entscheiden kann, wie VIEL zu viel ist“
„Ich habe das Gefühl, dass mir der Stress des vergangenen Jahres klar gemacht hat, dass man nie weiß, was als nächstes passieren wird. Wir hören es als Kinder, wir hören es als Teenager und wenn wir in unseren frühen Zwanzigern sind, weiß man nie, was morgen passieren wird“, sagt Chuol. „Das Jahr 2020 hat uns das in Realität vor Augen geführt. Im vergangenen Jahr war ich etwas egoistisch, wenn es um Entscheidungen und mein Leben, genauer gesagt mein Privatleben, ging.“
Ein paar Aspekte ihres Lebens hat Chuol jedoch trotzdem geteilt. Letzten Sommer schrieb sie auf Instagram, dass sie während des Lockdowns einen Suizidversuch unternahm und schreibt ihre Entscheidung, dieses Erlebnis öffentlich zu machen, ihrer Erziehung zu. Als Kind wurde sie immer ermutigt, ihre Gefühle zuzulassen, ob Glück, Trauer oder Ärger. „Es waren immer ein fürsorgliches Familienmitglied, Freunde oder eine Tante da, um mir zu sagen: ‚Was immer deine Seele stört, weine dich aus und erzähl es mir dann‘. Sie haben nie gesagt: ,Ignorier deine Gefühle und erzähl es mir jetzt.‘ Ich wurde nie gehetzt.“
„Ich habe meinen eigenen Rhythmus in den sozialen Medien“, erklärt sie weiter. „Und manche Menschen wissen das zu schätzen. Andere glauben vielleicht, ich teile zu viel. Aber ich glaube nicht, dass irgendjemand für eine andere Person entscheiden kann, wie viel zu viel ist.“
Davor hatte Chuol bereits ihre Liebe mit der Öffentlichkeit geteilt, als ihre Heirat mit Lexy – einer Unternehmerin und Nagelkünstlerin, die sie 2019 traf – es in die Medien geschafft hatte. Daraufhin erreichte Chuol eine Flut an Glückwünschen von Fans und sie hätte gerne die Kapazitäten gehabt, auf alle Nachrichten zu antworten. Auf Online-Plattformen sichtbar zu sein, hat seinen Preis. Daher hat Chuol zusätzlich zu ihrem Management und ihrem Modelagenten ein Team engagiert, das sich auf ihr mentales Wohlbefinden konzentriert. Dazu gehören ein Therapeut und ein Life-Coach und sie besucht zweimal die Woche eine Therapiesitzung.
Chuol hätte sich nie erträumt, dass ihre Karriere ihr eine öffentliche Plattform ermöglichen würde (sie hat im Moment 179.000 Follower auf Instagram). „Eigentlich war es mein Plan, einen Job zu finden, bei dem ich genug Geld verdiene, um mir ein Haus und eine Farm mit einem Festnetzanschluss zu kaufen und nicht auf Social Media zu finden zu sein“, sagt sie, während sie über ihre aktuelle Realität nachdenkt, die davon meilenweit entfernt ist. Sie hat beschlossen, weniger von ihrer Beziehung online preiszugeben. Auch wenn sie bisher damit gute Erfahrungen gemacht hat, findet sie, dass genug darüber gesagt und vor allem geteilt wurde. „Ich liebe die [Elle-] Fotostrecke [sie zeigt das kürzlich verheiratete Paar küssend auf dem Cover]. Ich finde, es war wichtig. Ich finde, es war notwendig. Ich finde, es war wunderbar. Doch ich persönlich würde diesen Teil meines Lebens lieber für mich behalten.“
Sie spricht mit dem Elan einer jungen Frau, die weiß, dass ihr die Welt zu Füßen liegt und dass ihre Möglichkeiten grenzenlos sind. „Ich habe Träume, die ich mir vor meinem 25. Geburtstag erfüllen möchte. Während des Lockdowns habe ich einige Ziele bereits erreicht und ich werde auch die kommende Woche und diesen Monat einige erreichen. Zu meinem Glück fällt es mir leicht, schnell Dinge zu verwirklichen. Ich habe eine Menge [Träume] gestrichen, weil sich der Druck, 115 bis zum Alter von 25 Jahren zu erreichen, doch recht stark anfühlte. Das ist einfach für jeden zu viel. Ich mache es in meinem eigenen Tempo, aber ich überprüfe mich stets selbst, ob ich etwas schaffen kann.“
Trotz ihrer Selbstsicherheit gibt es ab und zu Momente, in denen sie nicht glauben kann, dass sie sich gerade auf dieser bedeutsamen Reise befindet. „Viele [Menschen] konnten sich den Weg, den ich eingeschlagen habe, nicht vorstellen. Ich selbst konnte mir das nicht vorstellen. Es ist manchmal noch immer surreal für mich. Denn ich bin camp und eine Schwarze Frau. Nicht wahr?“ sagt sie, während sie sich selbst in Erinnerung ruft, wer sie ist und wohin sie es geschafft hat. „Ich bin gebildet. Das sind Dinge, die sich meine Urgroßmutter nie und nimmer hätte erträumen können. Wenn ich als lesbische Frau in den 30er-Jahren gelebt hätte, glauben Sie, ich hätte herumgehen und sagen können: ‚Hey, ich möchte Model werden‘? In diesem Sinne habe ich einige Hindernisse überwunden.“
„Ich habe große HOFFNUNGEN in die ZUKÜNFTIGE Generation. Ich hoffe, wir bekommen es auf die Reihe und werden mit dem Klimawandel fertig und schützen den PLANETEN“
Ihre Vorfreude auf die Zukunft ist deutlich spürbar und es ist offensichtlich, dass sie extrem erfolgreich sein wird, egal, wofür sie sich als nächstes entscheidet. Es wäre keine Überraschung, wenn sie in den kommenden Jahren den Sprung auf die Kinoleinwand schaffen würde – oder auch schon früher, wenn man sich an ihrer bisherigen Erfolgsbilanz orientiert. Über ihr Leben auf und abseits des Laufstegs sagt sie: „Ich bin eine sehr dankbare Person. Dankbarkeit begleitet mich immer.“
Chuols Erwartungen beziehen sich nicht nur auf sich selbst. Seit sie die High School abgeschlossen hat, interessiert sie sich für Politik. „Ich wollte wissen, was in der Welt passiert und das kann manchmal überwältigend sein“, vor allem, da sie sich selbst als empathisch beschreibt. „Ich habe große Hoffnungen in die zukünftige Generation. Ich hoffe, wir bekommen es auf die Reihe und werden mit dem Klimawandel fertig und schützen den Planeten.“
Zum Abschluss erzählt sie mir, dass sie am Ende eines schwierigen Jahres, in dem wir als Kollektiv verlorene Leben und eine zerstörte Existenz betrauerten, dennoch voller Hoffnung ist. „Ich bin eine sehr hoffnungsvolle Person, es liegt in meiner Natur. Ich habe Hoffnung für die Welt.“
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