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Carolyn Murphy

CAROLYN MURPHY, eine der bekanntesten Models, lief drei Jahrzehnte für die renommiertesten Labels und arbeitete für die größten Namen in der Branche. Sie lebte sowohl in der Stadt als auch auf dem Land. Ihre Verbundenheit zur Natur, zu ihrer Familie und ihren Freunden ist jedoch das, was sie wirklich inspiriert wie TILLY MACALISTER-SMITH berichtet

Foto Alexandra NatafStyling Ilona Hamer
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Hauptbild: Blazer von Proenza Schouler. Top von bite Studios. Oben: Blazer und Hose von Michael Lo Sordo. Hemd von Totême.

Es ist gerade Internationaler Frauentag Anfang März, und Frauen weltweit erheben ihre Stimme für die, die es nicht können. Die sozialen Netzwerke sind voll von Nachrichten, die Solidarität bekunden und die den Fortschritt feiern, der in den Wochen und Jahrzehnten davor passiert ist. Es ist die Zeit, kurz bevor COVID-19 den Westen lahmlegt. Sonnenstrahlen erhellen ein Fotostudio in Brooklyn, New York, wo starke Frauen am Werk sind. Jill Scotts „Golden“ von Fotografin Alexandra Natafs Playlist tönt aus den Lautsprechern und Stylistin Ilona Hamer sieht die vielen eleganten Looks durch. Carolyn Murphy tänzelt dabei barfuß in einer lässigen Anzughose und mit einem strahlenden Lächeln über den Boden.

Das legendäre Supermodel lief erst kürzlich für die bekanntesten Namen über den Laufsteg, von Isabel Marant, Fendi, Off-White und The Row bis Zimmermann. Murphy hat vor 30 Jahren mit dem Modeln begonnen und war anfangs schüchtern und eine wohltuende Ausnahme in einer Welt von mächtigen Supermodels, Exzessen und Privat-Jets. Obwohl sie eines der gefragtesten Gesichter der Branche ist, haben sie die jüngsten Engagements überrascht. „Ich hatte eigentlich nicht geplant, in Shows zu laufen. Ich bin 46 und dachte, ich bin im Ruhestand vom Laufsteg“, lacht sie. In Wahrheit kann sich Murphy in dieser Phase ihrer Karriere die Jobs aussuchen. Bei The Row lief sie als krönender Abschluss über den Laufsteg, weil „Mary-Kate und Ashley meine Freundinnen sind. Ich habe das Gefühl, bei den beiden wie eine Schwester aufgehoben zu sein. Ich bewundere ihren Intellekt und ihr Gespür für Design sehr.“

„Ich GLAUBE nicht, dass eine 46-Jährige vor einigen JAHREN auf dem Laufsteg AKZEPTIERT worden wäre. Jetzt sind ALLE Altersgruppen willkommen“

Blazer und Hose von Balenciaga. Top von Off-White.

Und auch wenn Sie nicht in zu vielen Shows laufen wollte, so war die Entscheidung, Teil von Virgil Ablohs Off-White Show in Paris zu sein, eine leichte. „Er ist so intelligent, liebenswürdig und interessant. Ich habe mich während der Anprobe mit Gigi unterhalten – ich finde sie toll – und sie brachten das Kleid“, erzählt sie zu dem hautengen weißen Strickkleid mit Ausschnitt am Bauch, das ihre perfekten Bauchmuskeln zeigte. „Die Atmosphäre beim Fitting war so kraftvoll, ich habe mich dadurch total stark gefühlt.“ Die Laufsteg-Auftritte hatten eine befreiende Wirkung auf Murphy. „Ich dachte mir‚ was habe ich denn zu verlieren? Es ging einfach darum, Spaß zu haben. Im Moment wird in der Branche und in der Welt im Allgemeinen das Einbeziehen immer wichtiger und das finde ich schön. Ich glaube nicht, dass eine 46-Jährige vor einigen Jahren auf dem Laufsteg akzeptiert worden wäre. Jetzt sind alle Altersgruppen willkommen, was super ist.“

„Ich MUSS mich bewegen, um meinen KOPF frei zu bekommen“

Blazer und Hose von Totême. Kette von 1064 Studio.
Blazer von JW Anderson. Hose von Khaite. Gürtel von Loewe.

Ihre vieljährige Lebenserfahrung – sie war der Star von Kampagnen für Prada, Tom Ford und Max Mara, um nur ein paar zu nennen, Ehe, Scheidung und die Erziehung ihrer Tochter – sieht man ihr fast nicht an. („Ich habe Falten“, betont sie, als ich mich vorlehne, um genauer zu sehen.) Murphys natürliche Schönheit strahlt Gesundheit aus und kann Kampagnen-Slogans inspirieren (ihr 20-jähriger Vertrag mit Estée Lauder ist der längste der Geschichte des Hauses). Sie glaubt fest an das Motto ihrer Großmutter, dass „äußere Schönheit von innen kommt“. Daher ist ihr Schönheitsrezept sehr einfach: Ernährung mit viel Gemüse, viel Schlaf bei offenem Fenster für frische Luft, viel Wasser trinken (sie hat immer eine knapp Zwei-Liter-Flasche dabei und trinkt täglich zwei davon), kein Alkohol und eine Menge Feuchtigkeitscreme. „Wenn ich reise, die reichhaltigste, die ich finden kann.“ Auch ohne das geringste Make-up ist ihr Teint makellos.

Und wie das ausgeschnittene Kleid von Off-White gezeigt hat, sah ihr Körper nie besser aus. Für Murphy ist Gesundheit und Wellness Teil ihres Lebensstils und nicht nur gut für Behandlungen zwischendurch. „Ich muss mich bewegen, um meinen Kopf frei zu bekommen, gehe aber nicht gern ins Fitnessstudio. Viel lieber bin ich in der Natur. Ich gehe gerne wandern, surfe zwar nicht mehr, aber mache viel Yoga – Iyengar und Vinyasa.“ Sie war in ihrer Jugend Wettschwimmerin und hat kürzlich wieder damit begonnen. Auch ihre Liebe zu Tieren hält sie auf Trapp, obwohl sie gerade erst ihr geliebtes Pferd Doc verloren hat, das sie 18 Jahre lang hatte. Doch glücklicherweise hat sie noch ihre zwei loyalen Labradore Rupert und Emerson (der nach dem amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson benannt ist).

Blazer und Hose von The Row. Kette als Armband getragen von Loren Stewart. Ring von Saskia Diez.

„Es war NICHT immer leicht, Karriere und mein Leben als alleinerziehende MUTTER zu balancieren, aber ich wurde von FAMILIE und Freunden unterstützt“

Blazer und Hose von Jil Sander. Uhr von Cartier.

Murphy liebt es, Zeit zu Hause zu verbringen, und kocht lieber, als auswärts zu essen. Sie pflanzt Gemüse im Garten und kennt ihre Bauern persönlich, da sie sogar mitten im Winter regelmäßig auf Bauernmärkte geht – beeindruckend für eine New Yorkerin, die viele bequeme Alternativen zur Verfügung hätte. Es geht ihr um gute Ernährung und nicht um Verzicht. „Ich mache kein verrücktes Fasten oder Entgiften. Das Essen ist mir wichtig. Erst vor kurzem habe ich einen Monat zusammen mit meiner lieben Freundin Shalom Harlow in Hawaii verbracht und wir haben uns mit Agrarforstwirtschaft und Bauern, die biodynamische Landwirtschaft betreiben, beschäftigt und deren Höfe besucht.“

Kochen stellt auch eine wichtige Verbindung zu Dylan dar. Murphy selbst hat kochen von ihrer Mutter gelernt, die Bio-Gemüse von der Farm der Familie in Virginia zubereitete. „Dylan hat die Rudolf Steiner Waldorfschule besucht und Teil von deren Philosophie ist, dass wir mit allem in der Natur verbunden sind. Steiner hat das Technologie-Zeitalter nach dem Industrie-Zeitalter vorhergesagt. Für ihn waren auch Geist, Körper und Seele und die Verbindung zur Natur wichtig und dazu kehren wir jetzt zurück. Für mich war es selbstverständlich, dass Dylan so aufwächst.“

Ist es wahr, dass wir früher oder später alle wie unsere Eltern werden? „Dylan hat viel mehr Überblick als ich ihn hatte,“ gibt Murphy zu. „Sie ist nicht in den sozialen Netzwerken. Sie hat jahrelang damit gekämpft und sich schließlich abgemeldet. Sie mag Mode, wie viele andere junge Frauen, aber die Branche selbst interessiert sie nicht. Sie ist einfach sehr weise. Sie wurde schon so geboren. Ich hatte eine Hausgeburt auf der Farm, die ich in Upstate New York hatte und ich erinnere mich, wie ich sie ansah und dachte, dass sie mir einiges beibringen werde.“

Blazer von Deveaux. Hose von Salvatore Ferragamo. Kette getragen als Armband von Balenciaga.

Für Murphy steht nun ein neues Kapitel der Mutterschaft bevor, denn Dylan wird bald aufs College gehen. „Meine Güte! Ich kann gar nicht… es ist sehr hart“, sagt sie und wirft scherzhaft die Hände vors Gesicht. „Es war nicht immer leicht, Karriere und mein Leben als alleinerziehende Mutter zu balancieren, aber ich wurde von Familie und Freunden unterstützt und hatte auch den Luxus eines Jobs, bei dem man nicht Vollzeit arbeiten muss. Ich habe meine Karriere nach meiner Rolle als Mutter ausgerichtet, auch wenn das hieß, dass ich weniger Jobs annehmen konnte, was auch weniger Geld bedeutete. Doch jetzt bin ich an einem Punkt angelangt, an dem ich mir aussuchen kann, was ich wann mache, und ich muss mich erst daran gewöhnen. Wahrscheinlich sollte ich wieder mit dem Ausgehen anfangen!“ Dating-Apps machen ihr Angst, doch manchmal trifft sie Freunde von Freunden. „Wir werden sehen. Ich muss wieder mehr raus, doch gleichzeitig will ich mich zurückziehen und in Ruhe ein gutes Buch lesen, kochen und zu Hause tolle Filme ansehen.“

Schon bevor durch die aktuellen Quarantänevorschriften das öffentliche Leben weltweit stark eingeschränkt wurde, gab es ein Gefühl der Unruhe, das durch politische Unsicherheit, Klimawandel und immer neue Schlagzeilen bestärkt wurde. Wie behält sie da diese unerschütterliche Ruhe? „Ich bin auch nur ein Mensch. Auch wenn ich meditiere und Yoga mache, arbeiten meine Gedanken ständig. Ich denke über die momentanen Gegensätze in unserer Welt nach und ich finde nicht, dass diese Themen auf eine gesunde Weise kommuniziert werden. Es geht darum, was gerade los ist um uns herum, das Wetter, die Politik. Das Beste, was wir machen können, ist, auf unsere eigene Art emotional gefestigt und heil zu bleiben. Denn wenn wir nicht selbst ausgeglichen sind, wie können wir das vom Rest der Welt erwarten?“

Ihre Neigung zum positiven Denken findet sich in Wohltätigkeitsprojekten wieder. „Ich bin keine Aktivistin“, sagt sie. Ihr Zugang dazu ist geprägt von ihrer Kindheit und fokussiert sich auf Meer, Tiere, Ernährung und Kinder. „Tiere und Kinder haben nicht immer eine Stimme, wir müssen sie beschützen. Das Meer ist meine Leidenschaft, weil ich am Wasser und surfend aufgewachsen bin.“ Sie unterstützt speziell die „Surfrider Foundation“, „The Wellness Foundation“, „Animal Heaven“, „Edible Schoolyard NYC“, „Ocean Unite“, „No More Plastic“ und hat auch mit Bette Middlers „New York Restoration Project“ gearbeitet.

„Meine Garderobe sollte wie mein HAUS sein – ohne viel Schnickschnack, simpel, NEUTRALE Farben und QUALITÄT vor Quantität“

Blazer und Hose von Totême. Kette von 1064 Studio.

Murphy tendiert instinktiv dazu, alles in seine natürliche Ausgangsform zurückzuversetzen und das findet sich auch in ihrem persönlichen Stil wieder, was im Moment sehr aktuell scheint. „Meine Garderobe sollte wie mein Haus sein – ohne viel Schnickschnack und simpel, neutrale Farben, Qualität vor Quantität.“ Ihre Liebe zur Einfachheit spiegelt sich auch beim Wohnen wider: Sie hat intuitives und müheloses Talent, ein schönes und dezentes Ambiente zu schaffen – für sich selbst und manchmal auch für Freunde. Nachhaltigkeit im Sinn, verwertet sie oft Materialien für Interieurs wieder und arbeitet mit lokalen Lieferanten und Handwerkern zusammen, und liebt daran besonders, dass es die örtliche Gemeinschaft stärkt. Sie zwinkert: „Eine Dose weiße Farbe heilt fast alles.“

Murphy lebt in Brooklyn und zieht es Manhattan vor. „Es gibt Bäume und ich habe einen Garten und höre die Vögel singen, wenn ich die Fenster öffne“, erklärt sie. Bald werden die Renovierungsarbeiten ihres Stadthauses aus dem 19. Jahrhundert fertig gestellt sein. „Es war eine Herausforderung, da es so viele verschiedene Schichten gab – Leinen und Chintz aus den 1970ern und 1980ern.“ Sie hat auch ein Haus in den Hamptons, in dem sie abwechselnd lebt. Ihr heutiger Alltag zwischen Land, Strand und Stadt erinnert an ihre Kindheit: Die in Florida geborene wuchs an sonnigen Stränden, im ländlichen Oxfordshire in England und auf der Farm der Familie in Virginia auf.

Was sind ihre Hoffnungen für die Zukunft? Sie wird eine Webseite mit Namen „Mama Murphy’s“ veröffentlichen, die praktische Ratschläge und Orientierungshilfen bieten soll. Die Idee hatte sie bereits vor zehn Jahren, inspiriert von dem Konzept, sich auf das Natürliche und ein einfaches Leben zu besinnen, was jetzt wichtiger denn je scheint. „Es ist interessant, wie fremd manchen die Vorstellung von Einfachheit scheint. Es wird eine Lifestyle-Marke für moderne Leute.“ Und was plant sie für sich selbst? „Viel Spaß zu haben, viel zu lachen und für neue Dinge und Möglichkeiten offen zu sein. Ich möchte nie aufhören zu lernen, denn dadurch blühe ich erst richtig auf. Es gibt dieses tolle Zitat: ‚Bleib hungrig, bleib tollkühn.‘“

Blazer von Acne Studios. Top von Re/Done. Hose von Bottega Veneta. Sneakers von New Balance.